Wenn das Los über Politik entscheidet: Ist das mit der Demokratie vereinbar?

Viele halten demokratische Wahlen für weit „rationaler“ als Zufallsentscheide durch Münze oder Würfel. Einen fundamentalen Vorteil haben freilich beide gemein: ihre Vorläufigkeit.

Anfang Mai präsentierte Armin Wolf einen Vorschlag, der es wert ist, von seinen Grundsätzen her bedacht zu werden: Ein Gremium politischer Entscheidungsträgern könne unter geeigneten Umständen nicht nur durch eine demokratische Mehrheitsentscheidung, sondern auch durch das Los beschickt werden.

Wolf schlug als konkretes Beispiel vor, „100 oder 150 Österreicher, die zufällig aus der Wählerevidenz ausgelost werden – oder, noch besser: aus dem Verzeichnis der Gebührenzahler“ sollten eine Bürgerversammlung bilden mit dem Auftrag, „einen neuen Modus für die Aufsicht über den ORF zu erarbeiten, den das Parlament dann verpflichtend gesetzlich verankert“.

Sind Zufallsentscheidungen mit dem Los, dem Münzwurf oder dem Werfen eines Würfels mit der Demokratie überhaupt vereinbar? Das ist eine erwägenswerte Frage.

Beeindruckend wird dies zum Beispiel bei der Wahl des Papstes der koptischen Kirche praktiziert: Zuerst werden mittels der Mehrheitsentscheidung einer dafür befugten Versammlung, also streng demokratisch, drei Kandidaten für dieses Amt gekürt. Danach werden auf je einen Zettel die Namen der drei geschrieben, und das sprichwörtliche Waisenmädchen, dessen Augen verbunden sind, fischt einen der drei Zettel aus dem Kelch, in den sie gelegt wurden.

Selbstverständlich wird dies religiös als Wink von oben verstanden, aber darauf kommt es nicht an. Wesentlich ist, dass alle mit der Zufallswahl einverstanden sind. Sie wird deshalb akzeptiert, weil dadurch die Minderheit zum Zug kommen kann mit der Chance, dass diese Minderheit am klügsten ist – und es keine Katastrophe bedeutet, wenn sie es nicht ist.

Dies ist offenkundig die Bedingung der Möglichkeit dafür, dass man Zufallsentscheidungen zulässt: Im Grunde herrscht trotz der verschiedenen Eigeninteressen einzelner Personen oder ganzer Gruppen oder Parteien so viel Einmütigkeit im Grundsätzlichen, dass man damit gut leben kann, wenn der Zufall nicht den eigenen, sondern den Vertreter der anderen Seite zum Sieger macht.

Da nach dem Unmöglichkeitssatz von Arrow mathematisch längst bewiesen ist, dass logische Konsistenz und demokratisch gestaltete Entscheidungsfindung nicht zu vereinbaren sind, gibt es kein wirklich überzeugendes Argument, den Zufall nicht ins Spiel zu bringen. Gar nicht überzeugt die Verteidigung demokratischer Wahlen, die sich auf den „Wählerwillen“ beruft. Diesen gibt es genauso wenig wie das Ungeheuer von Loch Ness.

Niemand aber wird mit einer vom Zufall gelenkten Entscheidung einverstanden sein, wenn die zur Wahl stehenden Vorschläge der einzelnen Parteien so konträr sind, dass der Sieg der einen Gruppe die andere massiv stört.

Hier hofft man, dass die Verlierer den demokratisch errungenen Sieg der anderen anerkennen. Nicht weil der demokratisch gefällte Beschluss stets der richtige ist, sondern weil man sich von vornherein auf dieses Verfahren geeinigt hat. Bei der Entscheidung über die Gestaltung des Heeres ist das zum Beispiel recht gut gelungen.

In Wahrheit ist der demokratische Mehrheitsbeschluss nur scheinbar „rationaler“ als die Entscheidung mit dem Los. Egal, ob über Abstimmung oder mit dem Los entschieden wird: Wichtig ist nur, dass jeder Beschluss revidierbar bleibt, die Macht stets nur auf Zeit verliehen wird.


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("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.05.2013)

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