Nach 20 Jahren darf ich endlich den Kritiker interviewen

Umwertung aller Werte: Die Sängerin befragt den Rezensenten. »Presse«-Musikkritiker Wilhelm Sinkovicz steht Rede und Antwort über das Mitleid, subjektive Urteile, Hoppalas und Irrtümer, über den Pausentratsch, Prophetien, Leserbriefe und die Eitelkeit.

Angelika Kirchschlager: Wenn man 30 Jahre lang Konzerte und Opern besucht und darüber schreibt, gibt es dann nicht einen Moment, in dem es zu viel Musik wird?

Wilhelm Sinkovicz: Zu viel Musik wird es nie. Ich habe ja schon als Jugendlicher jeden Abend Musik gehört, auf dem Stehplatz, entweder in der Staatsoper oder im Musikverein. Da gehört natürlich ein gewisser Fanatismus dazu, aber den habe ich mir offenkundig bewahren können.

Sie haben das Hobby zum Beruf gemacht?

So kann man das sagen. Ich wollte schon mit 14 Musikkritiker werden. Es war mein Traumberuf – und ich erinnere mich noch, wie ein befreundeter Pianist zu mir ganz verächtlich sagte: Kritiker? Das ist doch kein Traumberuf!

Gab es für Sie dazu gar keine Alternative?

Na, ich musste natürlich nach Alternativen Ausschau halten, denn es gibt ja für Musikkritiker nur sehr wenige Posten. Aber ich hatte das Glück, dass mir Franz Endler, der damalige Kulturchef der „Presse“, die Chance gegeben hat. Dafür bin ich ihm heute noch dankbar. Er hat mich auch ins journalistische Handwerk eingewiesen. Dass wir sehr oft nicht einer Meinung waren, hat ihn dabei gar nicht gestört. Er hat mir gezeigt, wie's geht.

Wobei Sie ja ein Musikstudium als Grundlage mitbringen. Ist das eigentlich eine Voraussetzung für das Kritikenschreiben?

Sagen wir so: Es sollte die Voraussetzung sein. Genau genommen habe ich sogar zwei Musikstudien absolviert. Zuerst Komposition, parallel zur Oberstufe des Gymnasiums, am Konservatorium. Meine Eltern haben mir das erlaubt. Die Regelung hieß: Solange ich in der Schule keine Schwierigkeiten bekomme, darf ich ans Konservatorium. Also habe ich natürlich keine Schwierigkeiten bekommen. Ich wollte mich ja unbedingt eingehend mit Musik beschäftigen. Matura habe ich während einer Karajan-Stagione an der Staatsoper gemacht. Hat mich nicht abgehalten, jeden „Troubadour“, jede „Bohème“ mitzuverfolgen. Auch wenn am nächsten Tag Mathe schriftlich war. Ein Vierer ist sich ausgegangen. Nach der Matura habe ich dann noch Musikwissenschaft an der Uni inskribiert.

Welches der beiden Studien war wichtiger?

Das Kompositionsstudium, denn da ist man mit der Praxis beschäftigt. Die Theorie war nur die Zuwaag' – und hat mir das Doktorat beschert. Es ist aber viel wichtiger, die Dinge selbst kneten zu lernen. Wenn man einmal selber eine Fuge schreiben musste – vielleicht sollte ich eher sagen: basteln? –, dann weiß man, wie schwer das ist; und kriegt einen unendlichen Respekt vor denen, die das wirklich konnten, die Musik daraus gemacht haben. Und außerdem: Wer imstande ist, eine Partitur zu lesen, der hört natürlich anders zu, erfasst musikalische Zusammenhänge besser, davon bin ich überzeugt.

Und schreibt dann strengere Kritiken?

Nicht unbedingt. Ich halte es aber jedenfalls für wichtig, dass der Kritiker das Stück, über das er schreibt, so gut wie möglich kennt.

Empfindet man manchmal Mitleid mit Künstlern, wenn man zum Beispiel merkt: Das haut heute einfach gar nicht hin?

Hans Weigel hat so schön gesagt: In Wien wird immer unter dem Prätext „wenn man bedenkt“ kommentiert. Der Idealfall: ein Schauspieler in einer Rolle, die ihm nicht liegt, bei Föhn. Da ist was dran. Man weiß ja in der Regel, was ein Interpret kann, es sei denn er debütiert gerade. Bei Debütanten herrschen wieder andere Gesetze. Aber wenn man jemanden oft als wunderbaren Sänger oder Dirigenten oder Pianisten erlebt hat und einmal geht etwas schief, dann schreibt man natürlich keinen Verriss. Da reagiert ja auch das Publikum unter diesem „wenn man bedenkt“.

Wie verhält es sich mit der viel zitierten Objektivität, mit der Wahrheit, die wir in dieser „Presse“-Ausgabe auch thematisieren?

„Was die Wahrheit ist, das bringt kein Mensch heraus“, sagt Hugo von Hofmannsthals Klytämnestra. Was ist Wahrheit? In unserem Fall: Diesmal ist halt irgendetwas nicht gut gegangen. Das mag die Wahrheit sein. Aber die letzten vierzig Mal war's exzellent. Das ist ja dann auch wahr. Aber um auf die immer wieder gestellte Forderung nach Objektivität zurückzukommen: Eine Musikkritik ist wie jede Kunstkritik von vornherein eine subjektive Angelegenheit. Ich kann nur schreiben, wie es mir persönlich bei einer Aufführung geht – da halbwegs bei der Sache zu bleiben, dazu hilft mir die Erfahrung, die ich gesammelt habe, und das erlernte Wissen.

Also ist der Kritiker subjektiv?

Der Reihe nach: Es ist viel mehr objektivierbar, als man gemeinhin glauben möchte. Ob einer die Noten alle abliefert, wie sie geschrieben sind, ob etwas laut oder leise ist, ob ein Tenor das hohe C erreicht oder nicht, das sind nachprüfbare Fakten. Nur: Um die geht es in der Regel nicht wirklich. Wer in den „Troubadour“ geht, um das hohe C zu hören, hat nichts von Oper verstanden. Ganz abgesehen davon, dass dieses C bei Verdi gar nicht steht.

Wenn es darum nicht geht, worum geht es dann?

Würden wir zum Beispiel verlangen, dass der Soloklarinettist das Vorspiel zur Cavaradossi-Arie im dritten Akt der „Tosca“ so spielt, wie es in den Noten steht, dann würde das Publikum den Kopf schütteln und der Tenor wahrscheinlich einen Lachanfall bekommen. Also eine Ahnung von der Aufführungstradition und vom Wesen des Rubato muss man schon haben. Es stimmt ja auch der alte Spruch, dass das Wesentliche nicht in den Noten steht – sondern zwischen den Zeilen. Womit wir uns aber eben auf dem gefährlichen Terrain der Unwägbarkeiten bewegen. Nur diese Unwägbarkeiten machen die Kunst aus. Daher ist natürlich jede Aussage darüber zwangsläufig subjektiv.

Welchen Nutzen kann aber subjektive Kritik haben?

Sie stellt, vorausgesetzt das Subjekt ist informiert und kann schreiben, so etwas wie ein Barometer dar. Sie zeigt Pegelstände an – was die Stimmung im Saal betrifft, und wie weit das Potenzial, das in einem Werk liegt, ausgeschöpft worden ist.

Es gibt aber immer wieder negative Urteile über Aufführungen, bei denen das Publikum jubelt.

Stimmt. Es ist ja nicht gesagt, dass die genannten Pegelstände immer wie kommunizierende Gefäße funktionieren. Oft ist das Publikum von einer artistischen Leistung fasziniert, die an dem, was in einem Stück steckt, vorbeischrammt ...

Wie bringt man den Lesern das dann bei?

Da nützt eine Prise Humor.

Wie steht es eigentlich mit der Eitelkeit? Darf ein Kritiker eitel sein?

Dürfen vielleicht nicht. Aber natürlich bin ich eitel. Ein Journalist, der behauptet, er sei nicht eitel, lügt. Es gehört ein gerüttelt Maß an Egomanie dazu, sich tagtäglich über irgendetwas zu äußern. Vielleicht nützt es ja schon etwas, wenn man sich dessen bewusst ist. Ich bin auf manche Sachen stolz, nicht auf Destruktives – etwa irgendwen irgendwann zum Rücktritt gezwungen zu haben; hab ich auch gar nicht – sondern auf Konstruktives, zum Beispiel darauf, dass ich schon 1997 behauptet habe, die führenden Dirigenten des Jahres 2010 würden Christian Thielemann und Franz Welser-Möst heißen. Den Namen Thielemann kannten damals hierzulande nur wenige Musikfreunde. Oder dass ich das erste Interview mit einer gewissen Angelika Kirchschlager schon vor ihrem Engagement in der Grazer Oper gemacht habe ...

Kann sich der Kritiker auch irren? Gab es bei Ihnen Hoppalas?

Na und wie. Wo gehobelt wird, fallen Späne. Es passieren die dümmsten Fehler, oft aus Flüchtigkeit. Einmal stand bei mir zu lesen, die „Gurrelieder“ seien von Gustav Mahler. Dabei war das grad in der Phase, in der ich mein Schönberg-Buch geschrieben habe! Wenn Sie mich um drei in der Früh aufwecken, weiß ich, dass Schönberg der Komponist ist. Aber irgendwie dachte ich beim Tippen damals wahrscheinlich an das einzige Gegenstück zu den gigantomanischen „Gurreliedern“, die „Symphonie der Tausend“. Und flugs waren die „Gurrelieder“ von Mahler. Ich habe daraufhin übrigens einen zauberhaften Brief von einer Leserin bekommen, in Reimen!

Erhält man viele Reaktionen auf Kritiken?

Weniger als man glaubt. Dafür schreibe ich in der Regel allen zurück. Außer natürlich denen, die anonym bleiben. Die Internetforen, in denen sich bumpfi95 oder schlau007 abreagieren, schau ich nicht mehr an. Aus dem Dialog mit einem Leserbriefschreiber hat sich hingegen sogar schon einmal eine Freundschaft entwickelt!

Gibt es im Umgang mit einem Kritiker ein No-go? Zum Beispiel: Sänger dürfen keine Kritik über den Kritiker schreiben?

Na, das wäre ja einmal spannend! Aber es gibt zunächst einmal für den Kritiker einige Dinge, die verboten sind: die berühmte Kritik einer nicht besuchten Vorstellung. Es kann ja das eine oder andere Mal sein, dass man schon vor Ende einer Vorstellung geht – aber dann soll man das zugeben und begründen. Ist auch eine Aussage! Oder man schreibt gar keine Rezension. Das ist unter Umständen besser. Und im Umgang mit dem Kritiker? Also: Ich mag es nicht, wenn ich in der Pause oder nach einer Vorstellung gefragt werde, was ich davon halte.

Weil Sie nichts verraten wollen?

Weil ich es, genau genommen, noch nicht weiß. Jedenfalls hat sich über die Jahre hin herauskristallisiert, dass ich am selben Abend nicht gern über ein musikalisches Ereignis rede. Ich stehe auch so gut wie nie mit Kollegen zum Fachsimpeln beisammen. Ich lasse die Sache zunächst auf mich einwirken, dann sozusagen einsickern. Was am nächsten Morgen wieder auftaucht in der Erinnerung, ist offenbar wert, dass man darüber verhandelt.

Da geht es dann vielleicht um einen anderen Aspekt, den wir in dieser „Presse“-Ausgabe beleuchten wollen, die Stille. Wie wichtig ist Stille für Sie?

Eminent wichtig. Das stimmt natürlich genau: Dieses Versickern, das ich beschrieben habe, das hat etwas mit dem Hinübergleiten vom Musikerlebnis in die Stille zu tun. Nur dort kann sich ein Kunsteindruck überhaupt verfestigen. Das Schlimmste sind ja Restaurantbesuche nach Opernvorstellungen, wenn in dem Lokal dann Musik gespielt wird. Das ist eine Krankheit unserer Zeit, dass wir überall zugedröhnt werden. Ich hab oft ein Spiel mit den Kellnern gespielt: Bitte drehen Sie die Musik ab. – Das dürfen wir nicht! – Warum? – Weil die Gäste das wünschen! – Dann machen wir bitte ein Experiment: Drehen Sie die Musik ab, und im Moment, wo sich ein Gast beschwert und die Musik wieder haben will, schalten Sie sie wieder ein. – Es ist immer still geblieben! In Wahrheit will das ja niemand. Aber wir sind so stumpfsinnig auf Berieselung konditioniert, dass es den meisten gar nicht mehr auffällt.

Die Kritik entsteht dann also nach der Phase der Stille in der Früh am nächsten Tag?

Ja. Da erledige ich erst einmal die Post, beantworte Mails. Und irgendwann kommt der Punkt, wo sozusagen der Groschen fällt – und ich fange an zu schreiben. Im Idealfall weiß ich dann schon, wie viel Platz ich auf der Kulturseite bekomme.

Das heißt, man füllt einen bestimmten Platz aus?

Man fängt schon anders zu schreiben an, wenn man weiß: Sind es 60 oder sind es 100 Zeilen? Aber das gehört zum Handwerk. Der imaginäre Zeilenzähler funktioniert sozusagen inwendig und automatisch.

Machen Sie sich während der Aufführung Notizen?

So gut wie nie. Da gibt es aber einen hübschen Effekt, den ich im Sprechtheater immer bemerke: Nach einer Viertelstunde funkt ein Teil des Hirns an den andern: Ausschalten, du bist heute nicht zuständig. Das ist dann ungeheuer entspannend, weil ich offenbar darauf konditioniert bin, das interne Radargerät einzuschalten. Es gibt aber viele Kollegen, die mitschreiben. Der wohl bedeutendste Kritiker Deutschlands, Joachim Kaiser, schreibt immer Romane während der Vorstellung. Mich würde das viel zu sehr ablenken, aber ich muss zugeben: Von ihm stammten deutschlandweit natürlich die mit Abstand fundiertesten Rezensionen. Er hat meiner Meinung nach bisher keinen annähernd adäquaten Nachfolger gefunden. – Aber jetzt möchte ich zum Abschluss den Spieß doch noch umdrehen: Wie fühlt sich eine Sängerin, nachdem sie einen Musikkritiker interviewt hat?

Besser als vorher!

Ehrlich? Und warum?

Weil ich dieses Interview seit 20 Jahren machen wollte. Dank dieser „Presse“-Sonderausgabe hat es endlich funktioniert ...

Steckbrief

Wilhelm Sinkovicz, Jahrgang 1960, studierte Komposition und Musikwissenschaft. Universität und Konservatorium ist er nach dem Doktorat als Lektor treu geblieben.

„Die Presse“
engagierte ihn 1984 als Kulturredakteur und Musikkritiker. Von 1989 bis 1992 war er Leiter des Kulturressorts, danach bis 2005 Chefredakteur des „Schaufenster“. Seither konzentriert er sich aufs Schreiben und auf das Moderieren von „Presse“-Reihen wie „Klassische Verführung“ (in Ö1) oder „Musiksalon“.

Bücher
Er hat bisher Werke über Mozart, Schönberg oder die Wiener Staatsoper veröffentlicht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.03.2013)

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