Die Alibi-Lüge im Fall Kampusch

(c) APA (Matthias Silveri)
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Polizei und Ministerium vertuschten Fehler. Offiziell hatte Entführer Alibi und war deshalb unverdächtig. Im Akt steht anderes: Von einem Alibi ist dort keine Rede - im Gegenteil.

WIEN.Hätte Natascha Kampusch bereits kurz nach ihrer Entführung im Jahr 1998 wieder befreit werden können? Haben die ermittelnden Behörden versagt, Hinweise verschlampt und diese Fehler im Nachhinein vertuscht? Wie jetzt erst bekannt wird, hatte der Entführer Wolfgang Priklopil, anders als bisher von Polizei und Innenministerium behauptet, für den Tag der Entführung (2. März 1998) kein Alibi.

Die Frage, „was wäre geschehen, wenn“, ist zwar nur theoretisch, gleichzeitig aber offenbar so brisant, dass Staatsanwaltschaft und Büro für Interne Angelegenheiten (BIA) der Sache nun nachgehen – eineinhalb Jahre nach Kampuschs Flucht.

Fehler bewusst vertuscht?

Die bisher kolportierte Version war, dass Priklopil am 6. April 1998 Besuch von zwei Kriminalbeamten bekam. Hintergrund: Eine Schulkollegin der Entführten hatte ausgesagt, dass Kampusch in einen weißen Kastenwagen gezerrt worden sei. Die Polizei untersuchte im Anschluss 700 Kleinbusse aus Wien und Umgebung. Dabei stießen die Ermittler auch auf Priklopil, der in einem Haus in Strasshof an der Nordbahn wohnte. Warum man diesen nicht weiter überprüfte, erklärte Nikolaus Koch, Chef der eingerichteten Sonderkommission, am 25. August 2006, also zwei Tage nach Kampuschs Flucht, im Rahmen einer international beachteten Pressekonferenz so: „Er konnte ein glaubwürdiges Alibi vorweisen.“

Der Bericht der beiden Kriminalbeamten (siehe Faksimile) sagt jedoch das Gegenteil: „Er gab an, am 2. 3. 1998, den ganzen Tag über zu Hause gewesen zu sein. Er war alleine und kann daher kein bestätigtes Alibi (Hervorhebung durch die Red.) anbieten.“ Wurden da Fehler bewusst vertuscht?

Bundeskriminalamt und Soko-Leiter Koch blocken Rückfragen mit der jeweils gleichen Begründung ab. „Ich weiß nicht, wie der Bericht nun nach außen gelangt ist. Sehr wohl weiß ich aber, dass die Staatsanwaltschaft ermittelt. Aus diesem Grund werde ich mich öffentlich auch nicht dazu äußern“, so Koch zur „Presse“.

Ins Rollen gekommen war der Fall durch den ehemaligen BK-Chef Herwig Haidinger. Dem Innenausschuss des Parlaments erzählte er am Dienstag, dass er im Herbst 2006, also nach der Flucht von Kampusch aus ihrer Gefangenschaft, vermeintlichen Fehlern innerhalb der Soko auf den Grund gehen wollte, das Vorhaben wegen einer Weisung aus dem Innenministerium jedoch nicht umsetzen konnte. Begründung: Vor den Nationalratswahlen könne man keine Skandale brauchen. Ministerin damals: Die inzwischen verstorbene Liese Prokop (VP).

Tatsächlich gab es einiges, das für die Polizei unangenehm war: Ebenfalls im April 1998 hatte ein Wiener Polizeihundeführer Priklopil mit einer Zeugenaussage schwer belastet, ihn als „Eigenbrötler“ bezeichnet und den Verdacht zu einem „Hang zu Kindern in Bezug auf seine Sexualität“ geäußert. Der „Presse“ ließ der Mann nun gestern ausrichten: „Ich habe meine Aussage nach bestem Wissen und Gewissen gemacht. Ich habe damals gehofft, dass sie auch entsprechend erledigt wird.“

Obwohl die Täterbeschreibung exakt passte, Priklopil einen weißen Kastenwagen fuhr und nachweislich kein Alibi hatte, verteidigt sich das BK bis heute damit, die Polizei hätte mit den Hinweisen bei einem Richter keinen Durchsuchungsbefehl erhalten.

Ein namhafter Strafrechtsexperte, er will wegen der Brisanz des Falls nicht genannt werden, ist der Meinung, dass die Argumentation in der Theorie stimme. Und in der Praxis? „In der Regel werden Haft- oder Durchsuchungsbefehle auch bei wesentlich dünnerer Verdachtslage ausgestellt.“

Für die Ermittlungen im Fall Kampusch waren in den acht Jahren ihrer Gefangenschaft mehrere Einheiten zuständig. Zuerst fahndete die Wiener Polizei, danach das Bundeskriminalamt. Zuletzt wurde die burgenländische Kriminalpolizei damit betraut.

Sprechverbot für Ex-Ermittler

Die nun bekannt gewordenen Vorgänge geschahen zu der Zeit, als das Sicherheitsbüro der Wiener Polizei die Ermittlungen führte. Dessen Vorstand war Max Edelbacher. Im Gespräch mit der „Presse“ erklärte er am Mittwoch, dass er sich zum Fall nicht äußern dürfe. „Ich unterliege auch als Pensionist der Amtsverschwiegenheit, außerdem habe ich ein schriftlich erteiltes Sprechverbot.“ Recherchen in seinem Umfeld ergaben, dass die Hinweise des Wiener Polizeihundeführers nicht bis an die führenden Ermittler gelangt sein dürften.

Innenminister Günther Platter reagierte in einer Aussendung auf Vertuschungsvorwürfe. Er will nun eine „Evaluierungskommission“ einrichten, die den Fall „objektiv untersuchen und beurteilen“ soll. In vier Monaten soll ein Bericht vorliegen. Mitglieder dieser Kommission: Mathias Vogl (er gilt als Nachfolger des Generaldirektors für Öffentliche Sicherheit, Erik Buxbaum), Rudolf Keplinger (Leiter des OÖ-Landeskriminalamts) und Kriminalpsychologe Thomas Müller.

DER KRIMINALFALL

Natascha Kampusch wurde am 2. März 1998 auf dem Weg zur Schule im 22. Wiener Gemeindebezirk entführt. Am 23. August 2006 gelang ihr aus dem Haus ihres Entführers Wolfgang Priklopil in Strasshof (NÖ) die Flucht. Die Polizei konnte in den acht Jahre andauernden Ermittlungen ihren Aufenthaltsort nicht feststellen. Wenige Stunden nach der Flucht nahm sich Priklopil das Leben.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.02.2008)

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