Kletternde Minnesänger

Fensterln Bayrischer Liebesbrauch
Fensterln Bayrischer Liebesbrauchimago/Peter Widmann
  • Drucken

360 Grad Österreich: Das Fensterln ist Alpenfolklore, obwohl es eigentlich ganz andere Ursprünge hat. In Tux fand jetzt sogar eine Fensterln-WM statt.

Die Geschichten sind natürlich Legende. Etwa die vom Jüngling, der nächtens zu seiner Angebeteten wollte. Also kletterte er am alten Bauernhaus hinauf, stieg über den Balkon und klopfte an das Fenster. Erst leise, dann immer fester. Als das Fenster endlich aufging, lächelte ihn nicht das hübsche Mädchen an, sondern schaute grimmig der Vater. Der junge Mann hatte sich im Fenster geirrt, und vor Schreck fiel er hinunter in den Misthaufen. Manchmal ist es auch nur ein Heuschober.

„Fensterln“ ist Teil der Alpenfolklore wie die Wilderer. Mit dem wesentlichen Unterschied, dass es die Wilderer trotz Verklärung durch Ludwig Ganghofer wirklich gab und noch immer gibt. Das Fensterln dagegen ist erst durch den Mythos Realität geworden. Trotzdem: Es ist so mit Alpenregionen verbunden, dass man in Tux im Tiroler Zillertal an diesem Wochenende sogar eine Fensterln-Weltmeisterschaft veranstaltete. Und mehr als 50 männliche – und auch etliche weibliche – Teilnehmer bis aus Holland nahmen teil.

Fensterln sei „nachts zu einem Mädchen ans Fenster gehen und durchs Fenster zu ihm ins Zimmer klettern“, erklärt der Duden. „Fensterln kommt vom Gasslgehen und hat eher etwas mit den Minnen im Mittelalter zu tun“, erklärt dagegen einer, der es wissen muss – Karl Berger, Leiter des Tiroler Volkskunstmuseums. „Die Burschen sind in der Nacht durch den Ort gezogen und haben vor dem Zimmer der Angebeteten einstudierte, standardisierte Sprüche aufgesagt.“

Rede und Gegenrede, die überliefert waren und an die man sich hielt. Die Gegenrede des jungen Mädchens konnte positiv oder negativ sein, nie aber ließ sie den Buben ins Zimmer. „Der Höhepunkt war vielleicht ein Schnaps, aber nicht mehr.“


Moralisch bedenklich. Das war im 18. Jahrhundert. Dass die Burschen damals über das Haus oder eine Leiter ins Zimmer des Mädchens einstiegen – „das war vor allem aus praktischen Gründen eher undenkbar“. Denn die Töchter des Hauses, und es gab damals immer viele Töchter und auch immer viele Söhne, schliefen alle in einer einzigen „Mädchenkammer“. „Mit romantischer Einsamkeit war da nichts“, sagt der Museumsdirektor.

Dass das Fensterln zum idyllischen Bestandteil ländlichen Lebens wurde, passierte erst im 19. Jahrhundert, als aus dem Gasslgehen mehr wurde und der vermeintliche Brauch auch in Romanen Einzug hielt. Gar nicht zu sprechen von den Heimatfilmen des 20. Jahrhunderts. „Es war die Vorstellung gerade der Städter, dass sich im Alpenraum alte Kultursegmente erhalten haben, wie eben das Fensterln. Es war das edle Wilde, das man bewundert hat und das man schaurig-schön fand.“ Und mit der Zeit nahmen die Menschen auf dem Land die Bilder, die ihnen von außen geliefert wurden, als die eigenen wahr. Der Realität gewordene Mythos, wie ihn das Genrebild „Zillertaler beim Fensterln“ von Georg Wachter (1809–1863) im Volkskunstmuseum zeigt: Der verliebte Bursch klettert auf der Leiter zum Mädchen empor und setzt zum Kuss an, während unten der Vater steht und böse schaut.

„So soll's gewesen sein“, sagt Franz Stock, der freilich zu jung ist, um das aus eigener Erfahrung zu wissen. Und das war auch der Grund, warum der Juniorchef des Gasthauses Bergfried-Alm in Tux mit ein paar Freunden die Idee hatte, aus dem Fensterln einen Wettbewerb zu machen. „Bei allem misst man sich heute. Warum nicht auch beim Fensterln?“ Deshalb gibt es die Fensterln-Weltmeisterschaft in Tux, in der sich gestern wieder Männer, Frauen und auch Kinder maßen.

Nein, allzu betrunken sei man nicht gewesen, als man die Idee hatte, versichert der launige Franz Stock. Es sei eigentlich so gewesen: „Wir sind im Lokal gesessen, und am Nebentisch hat uns ein 80-jähriger Einheimischer zugehört.“ Irgendwann hat er der „heutigen Jugend“ einmal erklärt, wie es war vor Zeiten von Facebook und Instagram. „Da hast zum Madl aufiklettern miassn, hat er g'sagt“, erinnert sich Franz. „Und aufpassn hast miassn. Des war nit so oanfach.“

Und was „nit oanfach“ ist, ist in Tirol eine Herausforderung. „Wir haben das also gleich ausprobiert.“ Die Partie ist am alten Teil des Gasthauses, der auf das 17. Jahrhundert zurückgehe, über Holzsäulen und Balkone bis in den obersten Stock geklettert. „Daraus ist der Wettbewerb geworden.“

An diesem Samstag haben sich gut 100 Teilnehmer angemeldet – viele Einheimische, aber auch Deutsche und Holländer – , um den Parcours zu absolvieren. Dieser führt erst über einen Baumstamm, anschließend müssen die Teilnehmer Bierkisten stapeln und über diese Kisten in den ersten Stock klettern. An der Fassade entlang geht es in den zweiten Stock, und dort, auf etwa neun Metern Höhe, wartet eine Dame im Dirndl und teilt Küsse aus – oder auch nicht. Das hängt von der Dame ab – und wohl auch vom Kletterer. Die schnellsten schaffen es vom Erdboden bis zum Kuss im zweiten Stock in unter 30 Sekunden (gesichert werden alle Teilnehmer von der lokalen Bergrettung).

Eine ziemlich sexistische Veranstaltung, bei der die Frau zum reinen Objekt degradiert werde. Befand zumindest die Gleichbehandlungsbeauftragte der Universität Passau. Dort wollten Studenten vor einigen Wochen einen ähnlichen Wettbewerb abhalten, mussten ihn dann aber wegen des Einwands wieder absagen. Dafür bekam die Uni Passau in ganz Europa ziemlich viel mediale Aufmerksamkeit.

„Wir haben das Problem nicht“, erklärt Franz Stock. Denn auch Damen klettern die Hauswand hoch. Oben im zweiten Stock wartet Chef Benjamin Stock – und küsst jede Teilnehmerin.

Kinder machen bei der Meisterschaft ebenfalls mit. „Die finden das megacool“, sagt Franz. Ein Mädchen im Dirndl steht ebenfalls oben auf dem Balkon, sie küsst aber niemanden, denn: „Die Buben finden das ziemlich grauslich.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.07.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.