Ein neues Wien-Buch führt zu "Sehenswürdigkeiten auf den zweiten Blick". An den touristischen Ecken streifen die Spaziergänge dabei nicht an. Gut so.
Ungefähr in der Mitte der Tour steht man auf einem über und über mit Graffiti besprayten Steg, darunter zehn, zwölf, nein, mehr Gleiskörper, auf denen eine Reihe von ÖBB-Zügen träge parkt. Am Ende des Stegs ein ziemlich hässlicher Neubau, der mit „Girls, Girls“ wirbt. Blickt man gegen Westen, erkennt man, hinter den abgestellten Loks und Wagons – und man muss zwei Mal schauen, um sicherzugehen, dass sie es wirklich ist – in der Ferne und ganz blass: die Gloriette.
Der Rustensteg über den Westbahngleisen ist ein Ort, der gut demonstriert, auf welche Art von Stadttour man sich hier begeben hat: Man ist ohne Zweifel in einer Großstadt, aber keinesfalls dort, wohin es Touristen verschlägt. An den bekannten Sehenswürdigkeiten streift man bestenfalls an, sieht sie, wenn überhaupt, von Weitem oder biegt, spätestens, wenn man sie schon fast erreicht hat, in eine unscheinbare Nebenstraße ab.
Der Journalist Georg Renöckl hat in seinem Wien-Buch eine Reihe von Touren durch das großteils unbekanntere Wien versammelt, das eine Mal sehr großstädtisch, das andere Mal – wie bei der kleinen Wanderung durch den Süden Favoritens – fast schon ländlich. Den abgegriffenen Buchtitel „Wien abseits der Pfade“ (immerhin wurde auf das noch schlimmere Wort Trampelpfade verzichtet) darf man ihm (oder dem Verlag) verzeihen, weil er tatsächlich hält, was er verspricht.
Auch wenn die eine oder andere bekannte Institution dabei ist. Den Spaziergang durch Rudolfsheim-Fünfhaus beginnt Renöckl im Café Westend (im Siebenten), das wohl auch in manchem Touristenstadtführer gelistet ist. Detailliert und unaufgeregt erzählt der Autor in der Ich-Form von seinen Beobachtungen während der Spaziergänge. Vom Westend taucht er in den Fünfzehnten ein; zunächst einmal geht es hinauf, in die Kuppel der Kirche Maria vom Siege. Ein Aufstieg, der mit einem atemberaubenden Blick auf die Stadt belohnt wird. (Geht nur gegen Voranmeldung, klingt sehr empfehlenswert – für Schwindelfreie.)
Auch zu ebener Erde eröffnet einem der Spaziergang ungewohnte Anblicke, nicht alle sind unbedingt spektakulär, jedenfalls aber fast immer neu: In diese Nebenstraßen verschlägt es die meisten Wiener eher selten. Die Wegbeschreibungen sind trotz des – für einen Stadtführer – fast literarischen Stils präzise, Google Maps auf dem Smartphone braucht man ausnahmsweise einmal nicht.
Die Touren haben dabei durchaus auch einen kulinarischen Einschlag. So kommt man entlang von Gemeindebauten, Zinshäusern und wenig schmucken Neubauten auch an manchem Lokal vorbei. Wie dem Bobo-Lokal Eduard mit seinem hübschen Gastgarten und, natürlich, Burgern, am Sparkassenplatz. Oder richtigen Beisln wie dem Quell in der Reindorfgasse. Überhaupt tut sich etwas in der Reindorfgasse, auch wenn hier im Grätzel immer noch heruntergelassene Rollläden das Straßenbild prägen. Dazwischen hat sich etwa das Rein Wein seinen Platz erobert, das trotz des Lokalnamens auch mit Craft Beer wirbt.
Eine wirkliche Entdeckung ist ein paar Gehminuten weiter die Bäckerei Wagner in der Storchengasse. Hier wird tatsächlich noch alles selbst gebacken, was man den Brotlaiben, Golatschen, Kipferln auch ansieht und was auch schmeckt. Bäckermeister Wagner hat für Renöckls Buch sein Rezept für den Freitagsstriezel beigesteuert.
Wer will, kann dank Renöckls „Orte zum Verweilen“-Tipps noch länger im Grätzel hängen bleiben. Oder gleich in der Längenfeldgasse in die U4 steigen, weiter zur Schönbrunn-Tour, die konsequenterweise nicht zum Schloss, sondern „weg von Schönbrunn“ führt. Auch hier fühlt man sich ein wenig abseits der, äh, Pfade.
Wien-Buch
„Wien abseits der Pfade“ des Journalisten und Lehrers Georg Renöckl ist im Braumüller-Verlag erschienen. 240 Seiten, 14,90 Euro.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.05.2016)