Missbrauchsopfer Hermine Reisinger befürchtet Racheakte gegen Täter: "Wenn der Gesetzgeber nicht endlich beginnt, die Opfer zu schützen, werden diese die Angelegenheit selbst in die Hand nehmen."
Wien. Eine Lebensgeschichte wie diese würde die meisten Menschen für immer brechen. Hermine Reisinger aber hat sich entschieden, an ihrem Leid nicht zu verzweifeln, sondern gestärkt daraus hervorzugehen. Mit ihrem soeben erschienenen Buch „Tote Kinderseele“ und ihrer Website www.gegensexuellegewalt.at versucht sie, ihre Erfahrungen zu nutzen, um Opfern sexueller Gewalt zu helfen. Von der Politik fordert die 60-Jährige, „endlich Gesetze für die Opfer zu machen, nicht nur für die Täter“. Sonst könnten Betroffene ihre Rache selbst in die Hand nehmen.
Rückblick: Hermine Reisinger wird 1951 als sechstes Kind einer ledigen Mutter geboren. Mit sieben Monaten kommt sie zu Pflegeeltern, wo sie beinahe jeder Form von Missbrauch ausgesetzt ist. „Mein Pflegevater hat mich wahrscheinlich bereits mit zwei Jahren vergewaltigt“, erzählt Reisinger. „Ich hatte schwere Darmverletzungen und entkam knapp dem Tod.“ Erst mit 15 fasst sie den Mut, ihren Peiniger anzuzeigen. Aber wegen Verjährung kommt es zu keiner Verurteilung. Schwer traumatisiert verbringt sie die Zeit zwischen ihrem 14. und 19. Lebensjahr in verschiedenen Erziehungsheimen. Mit 23 wird sie während einer Autostopptour durch Österreich von einem Fernfahrer vergewaltigt und bringt eine Tochter zur Welt, die ihr aber nach einigen Monaten abgenommen wird. „Das hat mich fertiggemacht, ich bin in großem Stil abgestürzt.“ Es folgen 16 Jahre Prostitution, Alkohol- und Drogensucht, ehe sie sich mit 42 Jahren selbst aus dem Elend befreien kann.
Höhere Strafen und Meldepflicht
„Heute teile ich meine Erfahrungen mit anderen Betroffenen, damit wir gemeinsam gegen Sexualstraftäter vorgehen können“, sagt Reisinger. „Die Politik hat uns im Stich gelassen, in der Öffentlichkeit werden wir als beschmutzte Personen geächtet.“ Und „der größte Witz“ seien die staatlichen und kirchlichen Opferschutzkommissionen, die die Interessen ihres Brötchengebers verfolgten und nicht die der Opfer. „Ich verlange eine Mindesthaftstrafe von fünf Jahren für jede Art von sexueller Gewalt“, so die Kärntnerin. „So etwas wie einen ,leichten Missbrauch‘ gibt es nicht, die zu geringen Strafen für Sextäter haben keine abschreckende Wirkung.“ Darüber hinaus fordert Reisinger, dass Vorstrafen wegen Sexdelikten nicht getilgt werden und dass Name, Adresse, aktueller Beruf und Strafregisterauszug von jedem Sexualstraftäter veröffentlicht werden. „Denn wenn man weiß, dass in der Nachbarschaft so jemand wohnt, trifft man ganz andere Vorsichtsmaßnahmen.“ Das Argument, die öffentliche Preisgabe von Daten könnte zu Selbstjustiz führen, lässt sie nicht gelten. Die Erfahrungen in anderen Ländern hätten gezeigt, dass solche Übergriffe praktisch nie vorkommen. „Im Gegenteil, wenn der Gesetzgeber nicht endlich beginnt, die Opfer zu schützen, werden diese die Angelegenheit selbst in die Hand nehmen. Dann werden Sextäter schon sehen, was Selbstjustiz bedeutet. Ich befürworte keine Vergeltungsakte, aber ich befürchte, dass es so kommen wird.“
("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.10.2011)