Ein Piusbruder kritisiert die "militante Demut" des neuen Papstes. Ein Journalist vermutet "unverzeihliche Arroganz". Versuch einer Abwägung.
Auch Bescheidenheit kann Arroganz sein“, schreibt der adelige Schriftsteller und Journalist Alexander von Schönburg in der „Welt“; er kennt sich mit Bescheidenheit aus, er hat u.a. „Die Kunst des stilvollen Verarmens“ verfasst: ein wunderbares Plädoyer für Bescheidenheit, Understatement und Gleichmut gegenüber materiellen Werten. Doch nun interpretiert er die „von uns bejubelten Demutsgesten des neuen Papstes“: Hinter ihnen stecke eine „unverzeihliche Arroganz“.
Solche Vorwürfe haben Tradition. Egon Friedell hat in seiner „Kulturgeschichte Griechenlands“ den Spartanern Ähnliches attestiert: „Ihr Tribon zum Beispiel“, schrieb er, „ein forciert einfacher abgeriebener Mantel, der später auch den Philosophen dazu diente, mit ihrer Schäbigkeit Staat zu machen, war ein reines Kostümstück.“
Gekonnte PR-Arbeit also, geleistet, um den dekadenten Athenern Respekt einzuflößen. Doch das seien die Demutsgesten von Papst Franziskus just nicht, meint Alexander von Schönburg: „Dafür sind sie viel zu authentisch. Sie beruhen auf einer Denkweise, die Anstoß an dem nimmt, was Jünger des Heiligen Thomas von Aquin die ,himmlische Weltordnung‘ nennen.“ Dieses hierarchische Weltbild werde seit der Renaissance „Schritt für Schritt durch eine Ideologie ersetzt, nach der es kein Oben und Unten geben darf“. Das sei „Balsam für die egalitaristischen Seelen der Untertanen“, doch der Papst als „letzter absolutistischer Monarch“ sei schlecht beraten, wenn er sich dieser Ideologie beuge.
Schärfer äußerte sich ein Vertreter der ultrakonservativen Piusbruderschaft, deren Ausgrenzung aus der Kirche Papst BenediktXVI. zum Ärger vieler Katholiken rückgängig machen wollte (u.a. indem er die Exkommunikation von vier „illegal“ geweihten Bischöfen für ungültig erklärte), über den neuen Papst, der den Piusbrüdern naturgemäß gar nicht gefällt. Er sei ein „idealistischer Armutsapostel der Siebzigerjahre“; er pflege eine „militante Demut, die sich aber als demütigend für die Kirche erweisen könnte“.
Jesus wäscht den Jüngern nur die Füße
Ist die Ideologie, von der Alexander von Schönburg und die Piusbrüder sprechen, nicht zentral im Christentum – oder zumindest in der Lehre Jesu, wenn man diese denn rekonstruieren kann? Um es ganz unjesuanisch zu sagen: Ja und nein. Die Fußwaschung, über die im Johannesevangelium berichtet wird, ist gewiss eine Demutsgeste, eine Umkehrung der Rangordnung: Jesus wäscht seinen Jüngern die Füße – und zwar, obwohl Petrus ihn um mehr bittet, nur die Füße –, und er sagt nachher: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Der Knecht ist nicht größer als sein Herr, noch der Apostel größer als der, der ihn gesandt hat.“ An dieser Stelle meint man zunächst, sich verlesen zu haben: Jesus betont nicht, dass der Herr nicht größer als der Knecht sei (das versteht sich vielleicht von selbst), sondern umgekehrt.
Diese – fast spielerische – Relativierung von Oben und Unten zieht sich durch die Evangelien: „Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht“, heißt es in Matthäus 23,12, nur ein paar Verse nach der – scheinbar? – strukturkonservativen Aufforderung: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.“
Solche Sätze sind freilich aus der Nahzeiterwartung zu verstehen: Die frühen Christen, die mit einem baldigen Ende der Welt rechneten, hatten weder Interesse daran, die Herrschaft in der Welt zu ändern noch diese an sich zu reißen. Doch die Idee vom christlichen Lebensentwurf als radikalem Gegenmodell zu den weltlichen Machtgefügen blieb zumindest an den Rändern der Kirche. Nicht zuletzt bei Franz von Assisi, in dessen Gedächtnis der neue Papst seinen Namen wählte.
„Weder Gold noch Silber noch Kupfer“
Er praktizierte Besitz- und Heimatlosigkeit radikal, sich aufs Matthäusevangelium (10,10) berufend: „Ihr sollt weder Gold noch Silber noch Kupfer in euren Gürteln haben, auch keine Reisetasche, auch nicht zwei Hemden, keine Schuhe, auch keinen Stecken.“ Von diesem Ideal ist die römische Kirche wie alle christlichen Kirchen denkbar weit weg. Schon weil sie selbst über einige irdische Güter verfügt. Und wenn es heute oft heißt, dass die Kirche – im reichen Europa – die „Postmaterialisten“ als Klientel entdecken sollte, auf ein zweites Hemd verzichten auch diese ungern.
Zurück zur symbolischen, rituellen Selbsterniedrigung, wie sie in der Fußwaschung praktiziert wird. Sie legt eine spitzfindige Frage nahe: Was ist, wenn sich jemand bewusst erniedrigt, weil er weiß – und damit rechnet –, dass das im Sinne von Matthäus 23,12 seine Erhöhung bedeutet?
Das steckt im Grunde hinter dem Vorwurf der Arroganz der Bescheidenheit. Die „nachsichtige, liebevolle und mitleidige Überlegenheit des Geringen über den Vornehmen“ schreibt Thomas Mann in den „Buddenbrooks“ zwei frommen, aber höchst schleißig gekleideten Schwestern zu, die Stammgäste beim „Jerusalemabend“ der Konsulin sind. Härtere Worte fand Stendhal in „Le Rouge et le Noir“: „Im Priesterseminar gibt es eine Art, sein Frühstücksei zu essen, die zeigt, was für Fortschritte in christlicher Demut man gemacht hat.“
Auch dafür – Skeptiker werden sagen: wie für so vieles – gibt es ein passendes Jesuswort: „Wenn ihr fastet, sollt ihr nicht sauer dreinschauen wie die Heuchler; denn sie verstellen ihr Angesicht, auf dass sie vor den Leuten etwas scheinen mit ihrem Fasten.“
Und ostentativ saure Miene kann man vielleicht manchen Postmaterialisten vorwerfen. Dem Papst Franz bisher nicht.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.03.2013)