Von Völkern, die sich vor der Welt verstecken

Gabide und Gabidate, 1979
Gabide und Gabidate, 1979(c) Gerald Henzinger
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Noch heute leben in Südamerika "isolierte Völker", die den Kontakt mit Weißen meiden. Missionare haben in der Vergangenheit viele indigene Gruppen zu einem westlichen Leben gedrängt, so wie die Ayoreos in Paraguay.

Zuerst müssen die richtigen Bäume gefällt und von den Ästen befreit werden. Dann sammeln die Männer weitere Baumaterialien und beginnen mit der eigentlichen Arbeit: Sie wollen ein Haus aufstellen, eine traditionelle aus Bäumen, Ästen und Lehm gebaute runde Hütte. So wie damals, als sie noch im Wald zu Hause waren und keinen Kontakt zu Weißen hatten. Damals, als sie noch von dem lebten, was die Natur zu bieten hatte.

Jetzt wollen Gabide und die anderen Männer testen, ob sie einige der Fähigkeiten aus ihrem alten Leben noch beherrschen. Denn auch das Bauen der Hütten – so wie andere Traditionen – hatten ihnen die Missionare verboten. Vieles von dem, was früher Alltag war, ist heute in den Hintergrund gerückt. Ihr Nomadenleben im Wald haben sie aufgegeben, tragen heute Baseballkappen und T-Shirts und leben in Dörfern. Gabide, heute ein alter Mann, kam erstmals 1979 in Kontakt mit dieser anderen Welt. Weiße Missionare kamen in den Wald, überredeten ihn und den Rest seiner Gruppe, Glauben und Traditionen fallen zu lassen und ein neues Leben mit einem neuen Gott in einem neuen Dorf zu beginnen. Heute ist Gabide der „Lider“ der Siedlung Arocojnadi im Norden Paraguays, er ist der Anführer einer Gruppe von Indigenen, deren Erstkontakt mit Weißen zwischen 35 und zehn Jahren zurückliegt.

Der österreichische Fotograf Gerald Henzinger hat Gabide und andere Mitglieder der Ayoreos in Paraguay getroffen. Der 38-Jährige verbrachte im Vorjahr fünf Wochen mit den Ureinwohnern des Gran Chaco, einer Region mit Trockenwäldern und Dornbuschsavannen im Inneren Südamerikas, die sich über das westliche Paraguay, das nördliche Argentinien und das südöstliche Bolivien erstreckt. Entstanden sind rund 6000 Fotos, die das heutige Leben der früheren Nomaden zeigen, aber auch die Suche nach ihrer Identität. „Sie sind in einer Welt aufgewachsen, die es heute nicht mehr gibt“, sagt Gerald Henzinger, der sich als Chronist einer verschwindenden Welt sieht. „Die Suche nach ihrem Platz in der Gesellschaft ist alles andere als abgeschlossen.“ Die Bilder, die Henzinger aus Paraguay mitgebracht hat, zeigen Menschen, die in einfachen Holzhütten leben, die wenig besitzen, die aber gern ums Feuer sitzen, Geschichten erzählen, per Handy Telefonkonferenzen mit befreundeten Dörfern abhalten, in denen sie vom Fotografen aus Österreich erzählen. Und in deren Gesichtern das wechselhafte Leben eindrucksvolle Spuren hinterlassen hat.

Völker, die scheinbar isoliert und ohne Kontakt zur Außenwelt in den großen Waldgebieten in Südamerika lebten und auch heute noch leben, haben seit jeher Mensch und Wissenschaft fasziniert. Doch der Begriff „unkontaktierte“ oder „isolierte Völker“ sei irreführend, erklärt Claudia Augustat vom Weltmuseum Wien (vormals Völkerkundemuseum). „Diese Gruppen glauben nämlich nicht, dass sie die einzigen Menschen in der Welt sind. Sie haben sich bewusst entschlossen, Kontakt mit anderen Menschen, auch mit anderen Indigenen, zu meiden und haben sich in entlegene Gebiete zurückgezogen“, sagt die Kuratorin der Südamerika-Sammlung des Museums. Diese Gruppen wüssten sehr wohl, was um sie herum passiere, aufgrund traumatischer Erlebnisse – aus der Kolonialzeit oder aus aktuellen Zusammenstößen etwa mit illegalen Holzfällern oder Drogenbanden – würden sie aber lieber in Abgeschiedenheit leben.

Derzeit sind in Brasilien, Peru, Bolivien, Venezuela, Kolumbien, Paraguay und Ecuador rund 200 solcher Gruppen bekannt. Erst diesen Sommer sind in Brasilien innerhalb von acht Wochen zwei Gruppen – die Mashco Piro und Xatanawa – in Kontakt mit Außenstehenden getreten. Krieger der Xatanawa hatten sich aufgemacht, um nach einem Angriff durch illegale Holzfäller Hilfe zu suchen. Im Fall der Mashco Piro dürfte eine Missionarin den Kontakt gesucht haben – ein Vorgang, der in Brasilien eigentlich gesetzlich verboten ist. Indigene Völker dürfen nicht bewusst kontaktiert werden. Es soll ihnen freigestellt sein, auch weiter in Abgeschiedenheit zu leben.

Nützlich für Gesellschaft. Im vorigen Jahrhundert war von freiwilliger Entscheidung noch keine Rede: Missionare verfolgten mehr oder weniger aggressiv die Kontaktaufnahme mit der indigenen Bevölkerung. Diese sollten zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft erzogen werden. Die nomadischen Waldbewohner wurden in Camps gesteckt, wo ihnen eine neue Sicht der Welt beigebracht wurde. Die alten Traditionen sollten in diesem neuen Leben so weit wie möglich unterdrückt werden – so wie im Fall Gabides und seiner Nachbarn im Dorf Arocojnadi. Für sie war es ein weiter Weg, ein halbwegs selbstbestimmtes, sesshaftes Leben zu führen.

Ein Großteil der Indigenen hat diesen Erstkontakt mit Weißen aber nicht überlebt: Eingeschleppte Krankheiten hatten einen massiven Bevölkerungsverlust zur Folge. Laut Claudia Augstat vom Weltmuseum haben bei der Ankunft der Europäer in Brasilien zwei bis fünf Millionen Indigene gelebt, von ihnen sind heute nur noch etwas mehr als 300.000 übrig. „Massensterben ist Teil des Traumas, das diese Gruppen erlebt haben“, sagt die Wissenschaftlerin. Das soziale und wirtschaftliche Gefüge gerate völlig aus den Fugen, wenn nur mehr Fragmente einer Gesellschaft übrig blieben.

Gefahr droht aber nicht nur von eingeschleppten Krankheitserregern, der Lebensraum indigener Völker weltweit schrumpft immer mehr. Viehzüchter, Ölfirmen, illegale Holzfäller und auch Drogenhändler eignen sich Land an, das scheinbar niemandem gehört. So werden die Gebiete, die isolierten Völkern zu Verfügung stehen, immer knapper.

Ungelöste Landfrage. Gabide, der „Lider“ aus dem Dorf Arocojnadi hat die Landfrage schon vor Langem als eines der größten Probleme seines Volkes erkannt, erzählt Fotograf Gerald Henzinger. Gabide versucht im Namen der rund hundert Dorfbewohner, ihr ursprüngliches Land zu kaufen. Obwohl die Verhandlungen im Laufen sind, tauchen immer wieder Bulldozer auf und beginnen mit illegalen Rodungen. Gabide, der innerhalb der Ayoreo-Gemeinschaft Paraguays eine wichtige Rolle im Kampf gegen die illegale Landnahme spielt, will jedenfalls nicht aufgeben. Auch seinen Kindern und Enkelkinder will er noch die Möglichkeit geben, ihre Kultur weiterleben zu können. Und diese ist untrennbar mit dem Wald verbunden.

>> Informationen über die Fotoausstellung
>> Die Facebook-Seite des Projekts

Der Fotograf

Gerald Henzinger (*1976 in Oberösterreich) bereiste den Gran Chaco Paraguays und besuchte das indigene Volk der Ayoreos. Er porträtiert Menschen, die über ihren Erstkontakt mit Weißen berichten, zeigt ihr Leben in der neuen Welt, aber auch ihren Kampf um ein kulturelles Überleben. Innerhalb von fünf Wochen hat der Südamerika-Kenner 6000 Fotos in den Ayoreodörfern Campo Loro, Chaidi und Arocojnadi geschossen.

„Unfreiwillig Sesshaft“ ist eine Fotoausstellung seiner Arbeiten. Vom 19. November bis 9. Jänner im Albert- Schweitzer-Haus, Garnisongasse 14–16, 1090 Wien. Henzinger

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.11.2014)

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