"Presse"-Reporter Stefan Riecher aus Haiti: "Die Wut bleibt in Erinnerung"

"Presse"-Reporter Stefan Riecher aus Haiti: "Die Angst der Menschen ist riesig"(c) Die Presse.com (APA-Grafik)
  • Drucken

Livebericht Kurz vor der Rückkehr nach New York ist es Zeit, die Erfahrungen zu verarbeiten. In Erinnerung wird die Wut einerseits und die Freundlichkeit der Leute andererseits bleiben.

Samstag, 02:00 MEZ (22:00 Ortszeit):

Mein Aufenthalt in Haiti neigt sich dem Ende zu. Ich werde mich dieses Wochenende auf den Weg zurück nach New York machen.

Was bleibt in Erinnerung? Viele schreckliche Eindrücke. Viele interessante Gespräche. Unglaubliche Einzelschicksale. Die Verzweiflung der Leute. Die Freundlichkeit der Leute. Die Wut der Leute. Eine physische und psychische Grenzerfahrung. Und vieles vieles mehr, das ich wohl erst aufarbeiten muss.

Weiters bleiben viele Fragen meine Profession betrefffend: Wie weit soll man als Journalist gehen? Wann soll man sich zurückziehen? Kann man helfen? Soll man überhaupt helfen? Fragen wie diese führen zu einem sehr grundlegenden Thema: Stört oder hilft Journalismus in Katastrophen? Ich bin sicher, dass er nicht stört. Ich bin ebenfalls sicher, dass er dringend nötig ist. Ob er hilft - oder ob er überhaupt helfen soll - weiß ich noch nicht. Jedenfalls möchte ich mich mit diesem Thema in Zukunft intensiver befassen.

Außerdem ist für mich klar, dass ich nach Haiti zurückkehren möchte. Unmittelbar nach einer Katastrophe schwingen Politiker immer große Reden (nicht nur nach einer Katastrophe, eigentlich). Ob was dahintersteckt, wird man in einem halben, vielleicht in einem Jahr besser beurteilen können.

Freitag, 3:32 MEZ (21:32 Ortszeit):

Man merkt schön langsam, dass es hier für viele Journalisten dem Ende zugeht. Manche sind so erschöpft, dass sie beim Abendessen einschlafen. Ein großer Teil der Reporter wird dieses Wochenende abreisen.

Bleibt zu hoffen, dass Haiti auch nach dem Exodus der Journalisten nicht vergessen wird. Während für uns der Job hier zum großen Teil erledigt ist, sollte er für viele Hilfskräfte erst so richtig beginnen.

Auch ich werde mich bald auf den Heimweg machen, wahrscheinlich dieses Wochenende. Morgen möchte ich aber noch ein weiteres Waisenheim besuchen, um auf das Problem des Menschenhandels aufmerksam machen zu können. Hunderttausende Kinder in Haiti sind momentan akut gefährdet.

Donnerstag: 17:51 MEZ (11:51 Ortszeit):

Und wieder ein Nachbeben. Diesmal nicht sehr stark, doch deutlich zu spüren.

Ich bin gerade in einer kleinen Schule für Waisenkinder. Viele von ihnen nehmen das Wackeln kaum mehr zur Kenntnis. Sie schauen kurz auf und sobald sie merken, dass es nur ein leichtes Beben ist, spielen sie weiter.

Donnerstag: 16:16 MEZ (10:16 Ortszeit):

Das Verkehrschaos rund um den Flughafen wird immer schlimmer. Um zu dem 3 Kilometer entfernten UN-Stützpunkt zu gelangen, braucht man eine Stunde. Mit dabei im Stau: Tausende Medikamente, Ärzte, Sicherheitsbeamte, und so weiter. Man kann nur hoffen, dass die UN den Verkehr bald zum Laufen bringt.

Mittwoch: 00:24 MEZ (18:24 Ortszeit):

Völliger Zusammenbruch des Hauptweges von der Dominikanischen Republik nach Port au Prince. Ich stehe bei der Stadteinfahrt, der Verkehr steht seit drei Stunden still. Etwa 500 Meter vor mir brennen zwei Autos.

Mit uns in der Kolonne stehen hunderte Autos und Lastwagen mit Hilfsgütern.

Die UN-Soldaten versuchen, den Verkehr zu regeln, sind aber völlig planlos und überfordert. Ein Musterbeispiel dafür, dass die Hilfskräfte die Lage noch immer nicht unter Kontrolle haben.

Mittwoch: 21:52 Uhr MEZ (15:52 Uhr Ortszeit):

Ich habe heute mit vielen Einheimischen gesprochen, durch die Bank die gleiche Angst vor neuerlichen Beben. Kaum jemand schläft im Inneren. Selbst jene Häuser, die das Beben unbeschadet ueberstanden haben, stehen leer.

Ich kann das verstehen. Heute morgen erlebte ich das erste Mal in meinem Leben ein richtig starkes Erdbeben. Zehn Sekunden erscheinen wie eine Ewigkeit. Alles wackelt, es ist unglaublich laut.

Ein unruhiges Gefühl ist von nun an immer dabei, selbst bei ganz leichten Nachbeben. Wie groß die Angst bei jenen sein muss, die das 7.0 starke Beben miterlebt haben, kann ich wohl nur annähernd nachvollziehen.


Mittwoch: 12:50 Uhr MEZ (6:50 Uhr Ortszeit):

Die Angst der Menschen ist riesig. Sie sind von den ständigen Beben traumatisiert. Ein Einheimischer erzählte mir gerade, dass sein Haus das Beben von vergangener Woche unbeschadet überstanden hat. Trotzdem schläft er auf der Strasse. Er fürchtet sich, ins Haus zurückzukehren.

Nach dem Beben von heute Morgen mit einer Stärke von 6,1 nach Richter wird er noch zumindest eine Woche lang im Freien übernachten, sagt er.


Mittwoch, 12:10 Uhr MEZ (6:10 Ortszeit)

Sehr starkes Nachbeben vor einer Minute! Länger und stärker als alle bisherigen. Menschen liefen schreiend auf die Strasse. Ich stehe mit Hunderten Leuten vor dem Hotel, noch traut sich niemand wieder hinein.

Mittwoch, 01:28 Uhr MEZ (19:28 Ortszeit)

Auf dem Rückweg von Carrefour nach Port-au-Prince habe ich noch im Hopital General vorbeigeschaut. Es ist das größte Spital des Landes.

Dort versuchen tausende Haitianer verzweifelt, ins Innere des Krankenhauses zu kommen. Manche sind verletzt. Manche wollen einfach nur nach Wasser oder Arbeit fragen. Die US Army hat 20 schwer bewaffnete Soldaten beim Eingang platziert, um Panik zu vermeiden.

Dienstag, 20:27 MEZ (14:27 Ortszeit)

Bin außerhalb der Hauptstadt Port-au-Prince unterwegs. Eines ist klar: Es wird noch lange dauern, bis die Hilfskräfte überallhin vorgedrungen sind.

In Carrefour, einer Stadt eine Stunde südlich von Port-au-Prince, sieht man genau ein provisorisches Feldkrankenhaus von Ärzte ohne Grenzen. Keine UN, keine US-Armee, kaum Polizei.

Weiter südlich sieht es ähnlich oder noch schlimmer aus. Manche Dörfer liegen völlig flach. Andere sind nur per Helikopter zu erreichen, weil die Straßen komplett zerstört sind.

Dienstag, 17:20 MEZ (11:20 Ortszeit)

Ich werde nun Port-au-Prince zum ersten Mal verlassen. Werde mich südlich der Stadt umsehen, ins zirka eine Stunde entfernte Carrefour fahren. Das ist näher beim Epizentrum, angeblich soll es dort noch schlimmer zugehen. Updates folgen.
Dienstag, 16:26 Uhr MEZ (10:26 Ortszeit)

Das Erdbeben ist eine Woche her, das Chaos wird immer schlimmer. Ich war soeben bei einem Busbahnhof. Der Massen-Exodus setzt ein. Völlig überfüllte Busse fahren im Minutentakt weg. Viele Tausende warten seit Stunden, um irgendwie aus dem zerstörten Port-au-Prince rauszukommen. Sie wollen es in Richtung Norden schaffen, wo die Zerstörung nicht ganz so schlimm ist.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Ein Überlebender des Erdbebens wird verarztet
Weltjournal

UNO bittet um 1,5 Milliarden Dollar für Haiti

Der größte Spendenaufruf in der UN-Geschichte: Die Überlebenden des Erdbebens brauchen Unterkünfte und sanitäre Anlagen. Ein weiteres Problem ist die instabile politische Situation.
Freigelassene US-Amerikaner in Haiti
Weltjournal

Haiti lässt acht inhaftierte US-Bürger wieder frei

Die US-Bürger waren wegen des Verdachts auf Kindesentführung in Haft. Acht der zehn dürfen nun mit sofortiger Wirkung das Land verlassen. Haiti stellt jedoch klar, dass sie weiterhin verdächtig sind.
Weltjournal

Spendenaktion hilft Bebenopfern in Haiti

„Presse“-Leser helfen mit ihren Spenden bei der ärztlichen Betreuung der Bebenopfer in den Camps. Bisher sind Gelder in die Erstversorgung der Opfer geflossen.
Port-au-Prince eine Monat nach dem Beben
Weltjournal

Ein Monat nach dem Beben: Nationaler Trauertag in Haiti

Mit einer großen Gedenkfeier erinnert der Karibikstaat an das verheerende Erdbeben vom 12. Jänner. 217.000 Menschen sind dabei gestorben. Der bevorstehenden Regenzeit sieht man mit Sorge entgegen.
Symbolbild: EU Militaermission für Haiti
Weltjournal

"Notphase nicht vorüber": EU schickt Soldaten nach Haiti

EU-Außenministerin Ashton reagiert auf die Bitten von Haitis Regierung und der UNO und kündigt für März den Beginn einer Militärmission zum Schutz der Erdbebenopfer an.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.