Laut Menschenrechtsexperte Hannes Tretter hatte die Polizei keine andere Möglichkeit, als das Flüchtlingslager aufzulösen, da es im Vorfeld nicht genehmigt wurde.
Die Presse: Die Demonstration war nach dem Versammlungsgesetz nicht angezeigt und wurde somit nicht gesetzeskonform abgehalten. Muss die Polizei in diesem Fall tätig werden und sie auflösen?
Hannes Tretter: Grundsätzlich ja, da es sich bei dem Verbot der Kampierverordnung um eine „Ist“- und nicht um eine „Kann“-Bestimmung handelt, die dem Schutz der Interessen anderer dient. Andernfalls könnte der Polizei Untätigkeit vorgeworfen werden. Ein Zeltlager wie das vor der Votivkirche, das Demonstrationszwecken dient, wäre wie jede andere Demonstration bei der Behörde im Vorfeld anzuzeigen und dürfte nur bei Nichtuntersagung abgehalten werden.
Was ist mit spontanen Demos als Reaktion auf ein aktuelles Ereignis?
Spontane Demonstrationen sind die einzige Ausnahme, sie dürfen im Sinne der Versammlungsfreiheit auch ohne vorherige Anzeige abgehalten werden, sofern es keinen zwingenden Grund gibt, sie aufzulösen – wobei jedoch alle anderen rechtlichen Bestimmungen, wie etwa die Straßenverkehrsverordnung oder ein Campierverbot einzuhalten sind, wovon bei angezeigten Versammlungen Abstand genommen werden kann. Allerdings dürfte es sich bei dem Flüchtlingscamp im Sigmund-Freud-Park auch nicht (mehr) um eine spontane Demonstration handeln, da es seit Tagen besteht.
Dann gab es keinen Ermessensspielraum der Polizei, das Zeltlager nicht zu räumen?
Es ist schwer, eine endgültige rechtliche Einschätzung vorzunehmen, aber aufgrund meines derzeitigen Wissensstandes dürfte die Auflösung des Zeltlagers durch die Polizei rechtens gewesen sein. Ob der Ablauf der Räumung unter Einhaltung menschenrechtlicher Standards erfolgt ist, wird noch zu prüfen sein. Unverhältnismäßig fände ich jedenfalls eine Bestrafung der Flüchtlinge wegen Verstoßes gegen die Kampierverordnung, da es sich bei ihren Forderungen um berechtigte asyl- und menschenrechtliche Anliegen handelt, die ich selbst zum größten Teil unterstütze. Jetzt ist politische Verantwortung gefragt, um den Demonstrierenden eine Alternative zu eröffnen, damit sie ihre Forderungen der Öffentlichkeit weiterhin sichtbar kommunizieren können.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.12.2012)