Unterirdisches Wien: Das Skelett im Keller

Unterirdisches Wien
Unterirdisches WienDie Presse
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360 Grad Österreich: Das oberirdische Wien kennt jeder, das unterirdische Wien aber ist bedeutend größer, gespenstischer und geheimnisvoller.

Caspar, Melchior und Baltasar waren hier, 1948. Die Kreide-inschrift auf der staubigen Tür ist noch immer gut zu lesen. Sonst hat sich kaum jemand nach hier unten verirrt und schon gar nicht nach hinten in ein abgelegenes Kellerabteil. Um die steile Leiter zu finden, die in einem Abteil aus dem Boden ragt, muss man schon Wissen haben, das nur hinter vorgehaltener Hand weitergegeben wird. Wer die drei Meter hinabsteigt, verschwindet in einem unterirdischen Wien aus dem Jahr 1749, das nur wenige kennen.

Die Luft ist feucht und stickig, von der Decke hängen lange Spinnweben. Die Dunkelheit wird nur vom Strahl der Taschenlampe durchschnitten, der auf alte Ziegelmauern trifft, auf Dutzende leere Flaschen und auf Weinfässer, an denen man die verschiedenen Stadien des Zerfalls studieren kann.

Hin und wieder knattert und hallt es im finsteren Keller, dass einem angst und bange werden könnte. „Das sind die Autos, die oben über das Kopfsteinpflaster fahren“, erklärt Thomas Keplinger. „Im Sommer mit den Fiakern ist das noch viel schlimmer.“

Keplinger ist hier unten in seinem Element. Der Wiener geht einem ungewöhnlichen Hobby nach: Er erkundet die Bundeshauptstadt unterirdisch. Und wir sprechen hier nicht von „Der Dritte Mann“-Touren oder von Spaziergängen durch die Kanalisation. Das ist Allerweltszeug. Keplinger will dorthin, wo nur wenige hinkommen. Zugespitzt formuliert ist vor ihm kein Keller sicher, kein Loch ist klein genug, um ihn aufzuhalten, und kein Stollen zu feucht. „Es ist zu einer Leidenschaft geworden, die fast jede freie Minute in Anspruch nimmt.“


Seltsamer Stollen. Vor drei, vier Jahren hat er seinen ersten Keller erkundet, seither sind es Dutzende geworden, dazu Stollen und Bunker. „Es ist ein Abenteuer, die Anlagen zu erforschen und herauszufinden, welche Geschichten dahinterstecken.“ Oft recherchiert Keplinger in Archiven nach interessanten Orten, meist aber geht er einfach in einen Keller eines Hauses, das ihm interessant vorkommt. Immer mit Genehmigung des Hausbesitzers oder der Hausverwaltung. Deshalb will man auch keine Adressen in der Zeitung lesen: Es könnte zu einem „Kellertourismus“ kommen oder, noch schlimmer, Menschen könnten dort Partys feiern.

Wien unterirdisch ist flächenmäßig bedeutend größer als Wien oberirdisch. „Drei Kellergeschoße findet man sehr häufig, teilweise sind es sogar vier.“ Früher einmal waren viele Keller miteinander verbunden. Gerhard Hertenberger, der sich noch etwas länger als Keplinger in der Unterwelt herumtreibt, hat einst mit dem Taucher Hans Hass gesprochen: „Er konnte sich erinnern, dass er als Kind unterirdisch weit durch Wien gegangen ist.“

Oft hatten die Nationalsozialisten die Gänge angelegt, wie einen draußen in Simmering, der 60 Meter tief in die Erde hineinführt und dann einfach endet. Ukrainische Zwangsarbeiter, vermuten Keplinger und Hertenberger, haben den Stollen gegraben. „In den Putz sind Ortsnamen aus der Ukraine eingeritzt.“ Wofür er aber gedient hat, das weiß man nicht: Möglicherweise hätte er zu einem größeren Luftschutzbunker führen sollen, vielleicht war er als ein Verbindungsgang angelegt, vielleicht diente er schlicht nur als Bunker.


Ein alter Bierkeller.
Beim Keller unter einem Platz in der Wiener Innenstadt weiß man genau, wofür er gedient hat: „Das war ab 1749 ein Bierkeller“, sagt Keplinger. Zugesperrt hat man ihn in den 1970er-Jahren, weil Menschen lieber in einem Garten Bier tranken als in einem Keller. Die Treppe, die hinunterführt, hat man zugemauert, die leeren Flaschen blieben und dazu viele alte Zeitungen, wie zum Beispiel „Die Sonntagslocke“ vom 4. September 1927.

Alte Zeitungen sind nicht der einzige Fund, den die beiden auf ihren Erkundungsgängen gemacht haben. Normalerweise lässt man Gegenstände liegen, so steht es auch in den Statuten ihrer Vereinigung zur Dokumentation und Erforschung vergessener Orte (vedevo.org). Hin und wieder aber nimmt man etwas mit, um es zu retten. Keplinger greift in eine Nike-Umhängetasche und holt einen Posteinlieferungsschein von 1939 und eine Münze von 1941 hervor. „Das Wien-Museum ist nicht an den Dingen interessiert.“ Die Lager dort sind schon zu voll.

Mit einer besonderen Entdeckung aber erregte Keplinger auch das Interesse der Historiker. Ende 2010 fand er unter dem dritten Wiener Gemeindebezirk ein ganzes Schwimmbad. Das Beatrixbad in der Linken Bahngasse, erbaut 1888, war nach dem Zweiten Weltkrieg in Vergessenheit geraten, bis Keplinger auf seinen Streifzügen einen seltsamen Aufbau erblickte. Danach grub er sich zwei Monate durch den Keller, entdecke eine alte Pumpe, stieß mit seinem Spaten auf Gewehre samt Munition aus dem 19. Jahrhundert und schließlich auf das Schwimmbad. Es wurde behutsam renoviert und wird heuer als Teil eines Wellness-Klubs wiedereröffnet.

Andere Entdeckungen sind gespenstischer. „Da hinten muss es sein“, sagt Hertenberger und leuchtet den Weg im Keller aus. Der Strahl tastet die Wand ab und bleibt schließlich an etwas hängen, was aussieht wie ein Knochen. Es ist eine Wirbelsäule, die in zwei Metern Höhe aus der Wand ragt. Daneben ein Schulterblatt und andere Knochen. Erinnerungen an die „Eislady“ werden wach, die ihre ermordeten Männer im Keller eingemauert hat. Die Wahrheit ist unspektakulärer: „Früher war hier ein Friedhof“, erklärt der Biologe, „den hat man irgendwann aufgelassen.“ Und jetzt drückt die Erde die Überreste langsam in den Freiraum.

Vieles bleibt unerklärlich, wie etwa das Verlies in einem Keller beim Donnerbrunnen. Tief unten, zwei Stockwerke unter dem Platz, findet sich ein kleiner Raum mit einem Gitterfenster. Das Eisen der Stäbe hat sich schon so weit aufgelöst, dass nur noch Fasern in alle Richtungen wegstehen. „Das“, sagt Keplinger, „regt die Fantasie an.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.02.2014)

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