Zeitzeuge in Schule: „Man musste Glück haben“

Einer von mehreren Besuchen von Zeitzeugen in diesen Tagen: Zwi Nigal mit seiner Frau im Gymnasium Zirkusgasse.
Einer von mehreren Besuchen von Zeitzeugen in diesen Tagen: Zwi Nigal mit seiner Frau im Gymnasium Zirkusgasse.(c) die Presse (Carolina Frank)
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Der 95-jährige Zwi Nigal, der in Wien zur Welt kam und vor den Nazis nach Israel fliehen musste, erzählt Schülern, wie sein Leben verlaufen ist – in seiner ehemaligen Schule in der Zirkusgasse. Die Achtklässler sind berührt.

Wien. „Man musste Glück haben“, diesen Satz sagt der 95-jährige Zwi Nigal wieder und wieder, als er Schülern des Gymnasiums Zirkusgasse eineinhalb Stunden lang erzählt, wie sein Leben verlaufen ist. Ein Leben, das er lange Zeit als ganz typisch, als nichts Besonderes angesehen habe. Das aber, gerade weil das Erlebte im schlimmstmöglichen Sinn typisch ist für die damalige Zeit, besonders ist.

Umso mehr, weil nur noch wenige Holocaust-Überlebende so fit sind wie Nigal, der für die Initiative erinnern.at des Bildungsministeriums mit seiner Frau aus Israel angereist ist. Und außerdem spricht der 95-Jährige an diesem Vormittag nicht in irgendeiner Schule, sondern in jener, die er selbst besucht hat, bis er 15 Jahre alt war, bis 1938. „Das letzte Mal, dass ich in dieser Schule so aufgeregt war, war wohl vor einer Prüfung in Mathematik“, sagt Nigal, der damals noch Hermann Heinz Engel hieß, schmunzelnd, bevor er in makellosem Deutsch zu erzählen beginnt.

Über seine absolut österreichloyale Familie – der Vater Eisenbahner, die Mutter im Ersten Weltkrieg freiwillig im Frontlazarett, der Onkel Offizier –, über seine Kindheit in der Großen Stadtgutgasse in Wien, wo er im Jahr 1923 geboren wurde. Über Novemberpogrome, Anschluss, Schikanen und die Flucht. Und eben über das Glück.

„Man begann zu ahnen, dass etwas losgeht“, sagt Nigal über jene Novembertage vor 80 Jahren. Am Abend hätten plötzlich zwei Gestapobeamte an die Tür geklopft. „Das waren zwei Typen wie aus einem schlechten Bond-Film, mit Ledermänteln.“ Nach wenigen Minuten drehten sie wieder um – vielleicht wegen der Fotografie des Onkels, der als Offizier im Ersten Weltkrieg gefallen war. Im Nachbarhaus ging die Sache anders aus. „Man musste Glück haben.“

So schildert Nigal den Schülern sein Leben – unaufgeregt, ohne Pathos. Mitunter in Anekdoten, die komisch wären, wären sie nicht tragisch. Wie etwa kurz nach dem Anschluss ein SA-Mann und zwei Hitlerjungen, die ihn in die NS-Parteizentrale des Bezirks brachten, darüber stritten, wer ihn jetzt erwischt habe („Das ist unser Jud'“ – „Nein, das ist mein Jud'“). Und wie er dann der Deportation entkam, indem er sich in den dortigen Lesesaal schlich und sich hinter einem Exemplar des „Völkischen Beobachters“ versteckte.

Er erzählt, wie er als verliebter 14-jähriger Bub seiner ersten Freundin, die mit ihrer Familie nach Tschechien floh, noch einen Blumenstrauß brachte, trotz aller Gefahren, die das mit sich brachte. Und wie er die berüchtigte Rede Adolf Hitlers auf dem Heldenplatz beobachtete, hinter einem Denkmal versteckt. „Das war Blödheit“, sagt er. „Wenn mich jemand erkannt hätte, hätten die mich zerrissen.“ Und er schildert auch, was sich ab 1938 in der Schule änderte. Etwa, wie sein Deutschprofessor, Nazi der ersten Stunde, eines Tages zwar Nigals Aufsatz vorlas, wie er es mit den besten Arbeiten zu tun pflegte. Allerdings mit dem Zusatz, dass es tragisch sei, dass die beste Arbeit wieder von einem „deutschfremden Element“ stamme. Trotzdem hat Nigal für die Schule nur lobende Worte. „Dass ich mir nach meiner Flucht ein neues Leben aufbauen konnte, das hatte ich unter anderem den fünf Jahren in der Zirkusgasse zu verdanken.“

Das neue Leben, das ist Israel, wohin er im Jänner 1939 gelangt, kurz nachdem die Familie gezwungen wird, die Wohnung zu verlassen. Seinem Vater, der später in Auschwitz ermordet wird, gelingt es, ihn mit einer Jugendgruppe legal nach Palästina zu schicken. „Das war die Erfüllung eines Traums. Ich wurde ja zionistisch erzogen.“ Dort arbeitet er in der Landwirtschaft, geht zur Jüdischen Brigade, mit der er bis nach Slowenien kommt. Später macht er Karriere beim Militär und studiert am Technion in Haifa. „Für die dortige Mathematik waren die fünf Jahre hier nicht genug“, sagt er – und holt sich damit einige Lacher der Schüler und der anwesenden Prominenz: Minister Heinz Faßmann, Staatssekretärin Karoline Edtstadler, IKG-Chef Oskar Deutsch.

„Dass wir das erleben durften“

Diese appellierten daran, die Verantwortung zu übernehmen, die aus der Geschichte erwächst (Faßmann), sich für ein menschliches Europa einzusetzen, in dem es keinen Hass und keinen Antisemitismus gibt (Deutsch), und Nigals Besuch als Anstoß zum Nachdenken zu nehmen (Edtstadler). Was die Achtklässler der Zirkusgasse auch zu tun scheinen. „In den Geschichtebüchern stehen so oberflächliche Sachen. Zu hören, wie das ganz konkret abgelaufen ist – das hat mich zum Nachdenken gebracht“, sagt etwa Gurmeet. „Das sind die Gassen, durch die wir auch jeden Tag gehen“, sagt Dalia. „Das hat noch einmal klar gemacht, wie wichtig die Vergangenheit für die Zukunft ist“, sagt Esma. Und Florian ist berührt: „Es ist ein Wahnsinn, dass wir das erleben durften.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.11.2018)

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