Ich seh, was du nicht siehst

„Das Nichts ist weg“: Der Augarten kannte früher die Leere, heute wird er im Schichtbetrieb genutzt.
„Das Nichts ist weg“: Der Augarten kannte früher die Leere, heute wird er im Schichtbetrieb genutzt.imago/viennaslide
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Die wachsende Wiener Bevölkerung schiebt sich übereinander – und jede Gruppe benützt dieselben Orte anders. Ein Blick in den Augarten und aus dem Augarten heraus.

Man merkt den Unterschied auf jeder Wiese, an jedem Baum und auf jeder Bank. Als wir in die Nähe des Augartens gezogen sind, fünfzehn Jahre ist das jetzt her, ist der Park eine lose bespielte Fläche gewesen. In der Früh drehten Läufer ihre Runden, Hundebesitzer führten ihre Hunde äußerln, Nachmittags fielen die Kindergartenkinder in lauten Rudeln über die rudimentär bestückten Spielplätze her. Bei Sonnenschein breiteten einzelne Grüppchen ihre Picknickdecken aus. Die Runde schweigender, rauchender älterer Männer, die sich an der Nordseite des Parks immer zum Boule-Spiel treffen, haben ausgesehen, als seien sie schon seit Jahrzehnten da.

Aber zwischen den einzelnen Benutzungen war viel Nichts. Zeitliches Nichts, räumliches Nichts. Es gab ganze Tage, da war alles leer, weil ein kalter Wind wehte oder weil der Boden nass war. Es gab Abende, an denen man nicht sicher war, ob der Parkwächter einen vielleicht schon eingesperrt hatte, weil man in der Dämmerung plötzlich keinen Menschen mehr sah. Es gab auch undefinierte, wilde Zonen zwischen den Wegen: Dort raschelte es verdächtig im Gestrüpp, schwirrte es voller Insekten, und Kinder, die besonders mutig waren, erzählten manchmal von unheimlichen Begegnungen. Mindestens Tiere lebten dort drin.

Das Nichts ist heute weg. Der Park wird im Schichtbetrieb benützt. Kaum ist der Hund mit dem Pinkeln an seinen Lieblingsbaumstamm fertig, hängt schon jemand seine Slackline dran. Die Läufer haben mit ihren Millionen Schritten entlang der Parkmauer einen exakten Rennpfad in die Erde gefräst; bald wird er so breit sein, dass sich sogar eine Überholspur ausgeht. An Frühlingstagen beschleunigt ein Fußgänger den Schritt, wenn er von Weitem sieht, dass ein Bankerl frei wird. Während die Boule-Spieler mit zusammengekniffenen Augen ihre Kugeln am Boden fixieren, fliegt hoch über ihren Köpfen ein Federball.

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