Die Wahlverlierer freuten sich diebisch über die Schlappe der Liberalen. Sie stellten aber mit Schaudern fest, dass eine absolute Mandatsmehrheit für die bürgerliche Union in Reichweite lag.
BERLIN. Vor dem Willy-Brandt-Haus herrschte vor der ersten Hochrechnung wahre Volksfest-Stimmung: Schlangen vor den Bierständen, gespannte Erwartung auf den Gesichtern von hunderten Mitgliedern und Anhängern vor der Parteizentrale der SPD in Berlin-Kreuzberg. Es schien beinahe so, als würden sie sich auf einen Wahlsieg einstimmen. Als der schwarze Balken für die CDU bei der Hochrechnung schließlich zunächst stockte, brauste tosender Jubel auf, dem in der nächsten Sekunde aber lähmendes Entsetzten folgte, als er danach weiter in die Höhe ging. Das eigene Ergebnis erregte lediglich matte Reaktionen, erst das für die FDP weckte hämische Schadenfreude.
„Neuwahl", schrie Ulrich Plate, ein Mitarbeiter der Bundestagsfraktion. „Nein", brüllte ein anderer Sympathisant und griff sich ungläubig auf den Kopf, als sich die Möglichkeit für eine absolute Mehrheit der Union abzeichnete. Ein anderer meinte: „Eine große Koalition wäre das Schlimmste für uns. Merkel wird uns hinrichten, wie sie die FDP hingerichtet hat."
Um 18.40 Uhr traten die Spitzenkräfte der Partei bereits aufs Podium, um das Resultat zu kommentieren, das zwar ein Plus verhieß gegenüber dem historischen Tiefstand von 2009, doch das Wahlziel deutlich verfehlte. Parteichef Sigmar Gabriel, flankiert von Peer Steinbrück und weiteren acht Mitgliedern des Führungsteams, dankte erst Steinbrück für eine couragierte Kampagne. Der Auftritt sollte Geschlossenheit demonstrieren. „Der Weg zurück ist härter als erwartet", resümierte er.
Ihrem nicht immer umstrittenen Spitzenkandidaten bereitete die Partei einen warmherzigen Empfang. Steinbrück sprach von einem „guten und richtigen Wahlkampf", er gratulierte Angela Merkel ritterlich zum Triumph. Zugleich fügte er hinzu, nun liege es an ihr, eine Mehrheit im Bundestag zu organisieren. „Der Ball liegt in ihrem Spielfeld." Die SPD machte es sich zunächst in der Warteposition bequem. Für sich selbst schloss Steinbrück einen Part bei einer allfälligen großen Koalition erneut aus.
Als Finanzminister hatte er durchaus harmonisch an der Seite der Kanzlerin agiert. Als Vizekanzler - als Kellner, wie Fischer einmal die Rollenverteilung gegenüber dem „Koch" Schröder charakterisierte - habe er keine Lust, dem Land zu dienen. Altkanzler Helmut Schmidt, Polit-Guru für alle Lebenslagen, mäkelte an der Festlegung Steinbrücks. Die Vizekanzler-Rolle wäre für SPD-Chef Gabriel reserviert - als Sprungbrett fürs Kanzleramt in vier Jahren.
Die Willy-Brandt-Büste auf der kleinen Bühne im Atrium der SPD-Zentrale hat im Lauf der Jahre zahlreiche Wahlverlierer erlebt - und nur eine einzige rauschende Wahlnacht. Bei der Wiederwahl der rot-grünen Koalition 2002 kam sogar der Obergrüne, Außenminister Joschka Fischer, zur Gratulationstour samt Champagner vorbei. Am Sonntag trösteten sich die Genossen gegenseitig - und vertrösteten sich auf 2017, auf einen Wahlsonntag im September. Vielleicht sei die Zeit ja dann reif für Rot-Rot-Grün.
Kleine Dramen, große Tragödien
Im Willy-Brandt-Haus spielen sich die kleinen Dramen und großen Tragödien erst im Hinterzimmer und danach auf offener Bühne ab: die Ankündigung von Neuwahlen, das Eingeständnis von Wahlschlappen, abrupte Rücktritte der Parteivorsitzenden.
In den vergangenen Wochen hatte sich ein leichter Aufwärtstrend für die SPD abgezeichnet. Die Basis brummt über die Option einer großen Koalition, die Funktionäre grummeln, manch einer orakelt von Zerreißprobe für die Partei. „Opposition ist Mist", formulierte der frühere SPD-Chef und Vizekanzler Franz Müntefering einst das Credo der „Sozis". Er brachte die Lektion der 16-jährigen Ära Kohl auf den Punkt.
Steinbrück beendete derweil seine selbst auferlegte Abstinenz während des Wahlkampfs. „Selters statt Sekt", hatte er bei einer Niederlage prophezeit. Zum Abschluss gönnte sich der Genussmensch trotzdem ein Glas Wein. „Ich bleibe an Deck der SPD", versprach er. Jetzt bleibt Zeit, das Versäumte der vergangenen Wochen nachzuholen: Bücher, CDs, Regale und Klamotten zu kaufen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.09.2013)