Täterprofil: „Die Ultraorthodoxen sind Israels größte Rassisten“

Mourners carry the bodies of Palestinian members of al Haj family who medics said were killed in an
Mourners carry the bodies of Palestinian members of al Haj family who medics said were killed in animago/UPI Photo
  • Drucken

Die Mörder des palästinensischen Jugendlichen kommen aus dem Milieu der Charedim. Oft sind es religiöse Wirrköpfe.

Die Nachricht vom grausamen Mord an Mohammed Abu Chedair ließ unmittelbar den Verdacht auf das national-religiöse Lager und Israels radikale Siedler fallen. Der 16-jährige Palästinenser Mohammed war am Tag nach der Beerdigung der drei ermordeten israelischen Teenager von seinen Eltern als entführt gemeldet worden. Wenige Stunden später fanden Polizisten den toten Körper des Burschen, der lebendig verbrannt worden war.

Die Vermutung, dass es sich um einen Racheakt gehandelt habe, bestätigte sich. Überraschend war hingegen die Herkunft der Täter. Nur einer der zunächst sechs Verhafteten kommt aus einer Siedlung im Westjordanland, die anderen aus Jerusalem und der israelischen Kleinstadt Bet Schemesch. Außerdem ist keiner der Verhafteten national-religiöser Jude. Allen gemeinsam ist indes die ultraorthodoxe Herkunft. „Die ultraorthodoxen Charedim (Gottesfürchtigen) sind mit Abstand das rassistischste Glied in der israelischen Gesellschaft“, erklärt Gidon Aran, Soziologe und Experte für jüdischen Terror an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Sogar innerhalb der eigenen Gruppe bestehen Ressentiments von Juden mit europäischer Herkunft gegenüber den Einwanderern aus Nordafrika und umgekehrt.

„Was alle verbindet, ist der Hass auf die Araber und andere Nicht-Juden“. Dabei spielten eher „Instinkte“ eine Rolle und die Begeisterung für den „starken und den stolzen Juden“, als politische Ideologien. „Sie können überzeugte Antizionisten sein und gleichzeitig gegen die Araber vorgehen.“

Die Skrupel der Siedler

Dass die Täter nicht in den Kreis der üblichen Verdächtigen der radikalen Siedler gehören, überraschte Aran nicht. Die Siedler seien gut organisiert und „viel zu schlau“, sich so schnell erwischen zu lassen, meint er und schüttelt den Kopf über „die Idioten“, die noch während der Entführung des jungen Mohammed von Sicherheitskameras gefilmt wurden. Der Terrorexperte vermutet zudem, dass die radikale Siedlerjugend trotz der regelmäßigen verbrecherischen Überfälle auf arabische Dörfer Skrupel vor einem so grausamen Mord hätte.

Soweit trotz Nachrichtensperre durchsickerte, ist der älteste Täter 30 Jahre alt ist und stammt aus der Siedlung Adam. Von Jerusalem aus sind es bis dorthin kaum zehn Minuten mit dem Auto. Die Siedlung ist rund 30 Jahre alt, grün und gepflegt mit hübschen Neubauten. Nach Norden hin erstreckt sich das Panorama der Stadt Jerusalem, auf der südlichen Seite beginnt die judäische Wüste.

Hagar Ben-Chaim will nicht glauben, dass der Hauptverdächtige aus Adam kommt. Vor zwei Jahren zog die junge Mutter wegen der billigen Preise für Wohnraum hierher. Ideologie habe keine Rolle gespielt. Pizzabäcker Dudu versteht genauso wenig, wie jemand einem anderen Menschen so brutales Leid zufügen kann. „Wir sind doch alle Kinder Gottes“, meint er, die Araber wie die Juden. Die Mörder des jungen Mohammed müssten „für immer hinter Gitter kommen“.

Dudu lebt, wie er sagt, mit seinen palästinensischen Nachbarn in Frieden. „Sie arbeiten bei uns“, fügt Hagar hinzu. Jüdischer und palästinensischer Terror müsse mit gleicher Münze bezahlt werden. In den Nachrichten habe Hagar gehört, dass die Eltern des Mörders in Bet Schemesch zur Miete wohnen. Es habe auch geheißen, „dass der Mann geistesgestört war und Medikamente einnehmen musste, um ruhig zu bleiben“. Angeblich war er Optiker und unterhielt einen Laden in Jerusalem.

Mindestens zwei der Tatverdächtigen stammen aus Bet Schemesch, angeblich Brüder, beide sollen noch minderjährig sein. Die Kleinstadt, etwa 20 Kilometer südwestlich von Jerusalem, ist zum Anziehungspunkt für die Radikalsten unter den Charedim geworden. Die Aggressionen richten sich meist auf die weltlichen Bürger der Stadt. Es kommt zu Übergriffen gegen „unkeusch gekleidete“ Frauen, die angespuckt und manchmal noch schlimmer belästigt werden.

„Die Charedim sind Opfer ihres eigenen Erfolgs“, meint Terrorexperte Aran. Haben im Mittelalter nur die intellektuellen Eliten ganztags in den Talmudschulen studiert, so geht in Israel „jeder Fünf- bis 40-jährige, männliche Ultraorthodoxe in die Jeschiwa“. Die Ansprüche dort sind enorm. „Nicht jeder schafft es, täglich 18 Stunden stillzusitzen und den Talmud zu studieren.“ Die Schwächeren rücken erst auf die hinteren Bänke und verlassen die Religionsschulen später ganz. Tausende, so sagt Aran, lungerten auf der Straße herum, seien mit den eigenen Familien zerstritten, religiös und ideologisch verwirrt und hätten nichts zu tun. „Es gibt keinen Sport, kein Kino, keine berufliche Ausbildung und keinen Sex.“ Wenig verwunderlich sei es deshalb, wenn sich die „aufgestaute Energie und die Hormone“ ein anderes Ventil suchten.

„Nicht fromm genug“

Im Einkaufsviertel von Ramat Bet Schemesch, dem frommeren Teil der Stadt, werben die beiden 15-jährigen Jossi Abraham und Israel Cohen für ein Sommerlager, das sie ehrenamtlich mitgestalten. Die beiden orthodoxen Teenager gehen selbst in eine Jeschiwa, gehören aber nicht zu den Charedim. „Wir wissen, dass sie Rassisten sind“, meint Israel. „Sie hassen ja sogar uns, weil wir ihnen nicht fromm genug sind.“ Die Gewalttat sei „unjüdisch“, meint Jossi und findet, dass „die Täter noch härter als palästinensische Mörder bestraft werden sollten“.

Die Ultraorthodoxen würden sicher an der Version festhalten, dass die Täter Verrückte seien, um sich von ihnen zu distanzieren, sagt Gidon Aran. Es seien Rowdys, die, aufgepeitscht durch die Welle der Emotionen, ihren Aggressionen freien Lauf gelassen hätten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.07.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.