Reise in den Tod: Die Schicksale der MH17-Passagiere

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Menschen aus mehr als zehn Ländern flogen mit der Maschine, unter ihnen Aids-Forscher wie Touristen.

Bevor Cor Schilder in Amsterdam in die Boeing 777 der Malaysia Airline einstieg, machte er mit seinem Mobiltelefon noch ein Foto der Maschine. Wenig spätere postete der Niederländer, der mit seiner Freundin auf den Weg in den Urlaub war, das Bild des Flugzeugs auf Facebook mit dem Kommentar: „Falls sie irgendwie verschwinden sollte, dann wisst ihr, wonach ihr suchen müsst.“

Was zu diesem Zeitpunkt noch ein Witz war, wurde knapp viereinhalb Stunden später Realität: Flug MH17 von Amsterdam Schipol mit Kurs auf Kuala Lumpur stürzte über der Ostukraine aus 10.000 Metern Höhe vom Himmel. 298 Menschen waren Bord, darunter viele Kinder. Niemand überlebte. Die meisten Passagiere kamen aus den Niederlanden (mindestens 189), aus Malaysia (45), Australien (28), Großbritannien (neun) und aus Deutschland (vier). Österreicher haben sich keine im Flugzeug befunden.

Cor Schilder und seine Freundin Neeltje Tol hatten sich auf zweieinhalb Wochen Urlaub auf Gigi Island gefreut: Cor postete Bilder der indonesischen Insel. Neeltje kündigte auf Facebook an, dass ihr Blumenladen in Volendam im Norden der Niederlande bis 3. August geschlossen bliebe. Einen Tag nach dem Absturz liegen vor Neeltjes Geschäft langstielige Rosen, Kerzen brennen, um an die lebenslustige Frau zu erinnern. Freunde haben auch dieses Foto auf Facebook gestellt.

Auf dem Weg in den Urlaub

So wie Cor und Neeltje hatten viele der Passagiere ihre Urlaubsreise noch vor sich. Sie wollten in Kuala Lumpur umsteigen, um nach Bali oder zu anderen Destinationen zu fliegen. Mehr als hundert Personen an Bord befanden sich auf einer Geschäftsreise: Sie wollten weiter nach Australien, wo am Sonntag in Melbourne eine große internationale Aids-Konferenz beginnt.

Joep Lange war einer von ihnen. Der 60-jährige Niederländer, der gemeinsam mit seiner Partnerin unterwegs war, galt als Pionier in der HIV/Aids-Forschung. Der frühere Präsident der Internationalen Aids-Gesellschaft, die die Konferenz mit 10.000 Teilnehmern aus aller Welt ausrichtet, wäre in Melbourne einer der hochrangigen Vortragenden gewesen. Auch der Brite Glenn Thomas war auf dem Weg nach Melbourne. Der 49-jährige Pressesprecher der Weltgesundheitsorganisation (WHO) hatte erst eine Woche bevor er Flug MH17 nahm, seinen Vater in seiner Heimatstadt Blackpool beerdigt. Mit an Bord waren auch weitere Anti-Aids-Aktivisten und Delegierte diverser Organisationen.

298 Passagiere des Unglücksflugs, 298 Schicksale: zwei Newcastle-Fans aus Großbritannien, die ihrem Lieblingsfußballklub zu einem Spiel nach Neuseeland nachreisten; eine australische Nonne, die nach Exerzitien in Frankreich zurück an eine katholische Privatschule nach Sydney flog, wo sie unterrichtete; ein Flugbegleiter aus Malaysia, der auf Bitte eines Kollegen seinen Dienst getauscht hatte und daher bei jenem Flug arbeitete.

Aber es gibt auch die Geschichten jener, die den Flug nicht genommen haben – und nun ihr Glück kaum fassen können: Barry und Izzy Sim hatten nur ein Ticket bekommen, wollten aber unbedingt gemeinsam reisen und entschieden sich daher für eine spätere Maschine. Vorsehung, sagten die beiden in einem BBC-Interview.

Eine Reise nach Hause

Viele der Passagiere befanden sich auf der Heimreise. Sie hatten eine unvergessliche Tour durch Europa hinter sich wie das Lehrerehepaar aus Australien, das ihre kürzliche Pensionierung genoss; oder ein Ärztepaar, das gemeinsam mit weiteren Medizinern eine Konferenz besucht und anschließend Urlaub gemacht hatte. Auch Nurahimah Mohd Noor war auf dem Weg in die Heimat: Sie wollte zum Fest des Fastenbrechens Ende Juli in Malaysia sein und sechs Woche bleiben, zum ersten Mal seit fünf Jahren.

Und dann gibt es da noch Schicksale wie jenes der Familie Rizk-Mann – sie sind von beiden Unglücksflügen der Malaysia Airline betroffen: Kaylene Manns Bruder und Schwägerin befanden sich auf dem im März verschollenen Malaysia-Flug MH370. Ihre Stieftochter und deren Mann verloren nun über der Ukraine ihr Leben. Nach einen vierwöchigen Europa-Urlaub hatten sie ihren ursprünglichen Flug auf den Malaysia-Flug umgebucht, weil sie die neunstündige Wartezeit beim Umsteigen vermeiden wollten.

Nick Norris war mit seinen drei Enkelkindern auf der Heimreise nach Australien. Die drei Kinder sollten rechtzeitig zu Schulbeginn wieder in Perth sein, während ihre Eltern, die ebenfalls mit in Europa waren, noch einige Tage in Amsterdam anhängten und dort vom Tod ihrer Kinder erfuhren.

Todeszone Ukraine

Verstreut liegen die Habseligkeiten auf Weizen- und Sonnenblumenfeldern in der Ukraine: Spielkarten, ein Kinderbuch, ein Lonely-Planet-Reiseführer über Bali, Handys, Zahnpastatuben. Auf zehn bis 15 Quadratkilometern rund um das Dorf Grabow verteilt sind Wrackteile, Gepäckstücke, Leichenteile – das Bild, das sich den Dorfbewohnern und später den Rettungsteams bot, sei „unbeschreiblich“, „schockierend“ gewesen, sagen die Augenzeugen. Ein Mann in blauen Shorts lag da mit ausgestreckten Armen und Beinen, das iPhone an seiner Seite. Ein Bub in rotem T-Shirt mit der Aufschrift „Don't Panic!“ – fast unversehrt hätten manche ausgesehen, schreibt eine Journalistin, die als eine der Ersten vor Ort war.

Heute, Freitag, konnten mehr als 120 Leichen geborgen werden. Die sterblichen Überreste der Passagiere werden ins etwa 300 Kilometer entfernte Charkow zur Identifizierung gebracht. Danach sollen sie in ihre Heimat überstellt werden, damit ihre Familien Abschied nehmen können.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.07.2014)

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