Yeziden: „Wir wollen weg von hier“

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Tausende Yeziden haben im Camp Newroz im Osten der syrischen Kurdengebiete Zuflucht gefunden.

Hamid Hassou atmet tief durch. „Wir hatten ein schönes Haus, doch jetzt ist alles weg“, sagt der 42-Jährige und senkt den Kopf. „Wir haben alles verloren. Sie sehen ja, wie wir jetzt leben müssen.“ Hamid Hassou deutet auf das, was ihm und seiner Familie geblieben ist: Matratzen, die auf dem Zeltboden ausgebreitet sind, Polster, ein lilafarbener Tischventilator, einige Kleidungsstücke. Alles andere musste er zurücklassen in seinem Dorf Tapar, nahe der nordirakischen Stadt Sinjar.

„Sie sind am 3. August in unser Dorf gekommen, mit Geländefahrzeugen und schweren Waffen“, erinnert sich Hamid Hassou. Die Eindringlinge waren Kämpfer der Extremistengruppe Islamischer Staat (IS), und sie kamen mit einem Ziel: die Bewohner von Tapar zu töten oder zu versklaven. Denn Hamid Hassou und die anderen in dem Dorf gehören – so wie die meisten Menschen rund um Sinjar – der religiösen Minderheit der Yeziden an. Und in der bizarren, mörderischen Ideologie des IS ist für Religionsgruppen wie die Yeziden kein Platz.
„Wir flohen in die Berge“, berichtet der 42-Jährige.
Zigtausende Yeziden hatten sich wegen der IS-Großoffensive im August dorthin zurückgezogen, in sengender Hitze, ohne ausreichende Vorräte an Wasser und Lebensmitteln. Hamid Hassous Schwiegermutter starb während der Flucht an Durst und Entkräftung. Erst nach acht Tagen erreichte sie Hilfe. Einheiten der syrisch-kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) kämpften einen Korridor zu den Eingeschlossenen in den Bergen frei. „Sie haben uns mit Geländefahrzeugen nach Syrien gebracht.“

Seither wohnt Hamid Hassou mit seiner Frau und seinen Kindern im Flüchtlingslager Newroz im Nordosten der syrischen Kurdengebiete nahe der Grenze zum Irak. 7000 Menschen leben hier in weißen und grauen Zelten, die sich in mehreren Reihen über den hellbraunen Boden ziehen.
Vor den Zelten waschen Frauen Geschirr in Plastikbottichen und bereiten auf offenen Feuerstellen Essen zu. Daneben spielen Kinder. Ein kleines Mädchen hat einen Holzstab, an dem eine Schnur hängt, in die Erde gesteckt. Sie zieht an der Schnur und wirft einen Stein in hohem Bogen durch die Luft. Das Mädchen hat in ihrer Fantasie eine Granate abgefeuert – das Kriegsspiel eines Kindes, das den Krieg hautnah miterlebt hat. Und das so wie ihre Eltern unter dem Trauma leidet, den schwer bewaffneten IS-Einheiten schutzlos ausgeliefert gewesen zu sein.

„Keiner hat uns geholfen, als der IS ins Dorf gekommen ist“, klagt Hamid Hassou. Nur die syrisch-kurdischen YPG-Kämpfer seien den Yeziden letzten Endes zu Hilfe geeilt. Mittlerweile haben die Yeziden eigene Einheiten aufgestellt, die im Sinjar-Gebirge gegen den IS kämpfen. Doch sie sind nur leicht bewaffnet und werden von weitaus stärkeren IS-Truppen eingekreist.

Angst vor dem Winter

Die Jihadisten kontrollieren nach wie vor viele der yezidischen Dörfer, so wie auch Tapar, aus dem Hamid Hassou geflohen ist. Dem 42-Jährigen und seiner Familie stehen schwierige Monate bevor. Bald kommt der Winter, der hier Schnee und Temperaturen bis zehn Grad unter null bringen kann.

„Wir brauchen unbedingt Heizgeräte für die Zelte. Und den Flüchtlingen fehlt es an warmer Kleidung“, sagt Abdulhakim Haji, der Koordinator des Newroz-Camps. Er klagt darüber, dass nach Rojava – wie die Kurden Syriens Kurdengebiete nennen – kaum Hilfe von außen komme. Die Gegend ist umgeben vom Feind IS und dem schwierigen Nachbarn Türkei. Ankara ist die Selbstverwaltung in Syriens Kurdengebieten ein Dorn im Auge, da diese von einer Schwesterpartei der türkisch-kurdischen Guerrillaorganisation PKK dominiert wird. Und der Grenzübergang von Rojava in Iraks Kurdenregion wird immer wieder vorübergehend geschlossen.

„Wir sind nicht mehr sicher“

„Eine Schwester meiner Frau ist dem IS in die Hände gefallen. Wir wissen nicht, was aus ihr geworden ist“, sagt Hamid Hassou und seufzt. „Wir hoffen, dass die Europäer und die Amerikaner bald den IS vertreiben werden.“ Große Hoffnungen setzt er aber nicht darauf. „Auch wenn der IS zurückgedrängt wird, werden wir uns in unseren früheren Dörfern nie mehr sicher fühlen.“ Einige der Araber aus Nachbarorten hätten mit den Jihadisten kollaboriert und sie herumgeführt. „Wir können nicht mehr zurück. Wir wollen weg von hier“, ruft seine 16-jährige Tochter. „Wir wollen nach Europa oder Amerika.““

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.10.2014)

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