US-Gesundheitssystem: Der amerikanische Patient

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Das Gesundheitswesen ist marod, ineffizient und teuer. Es stürzt die Amerikaner in Schulden und lässt ein Sechstel der Bevölkerung unversorgt. Obama will Abhilfe schaffen.

WASHINGTON. Damit hätte Lawrence Yurdin in seinen schlimmsten Albträumen nicht gerechnet. Statt allmählich in die Pension zu gleiten, sind der 64-jährige Computerspezialist und seine Frau Claire aus Austin, Texas, bankrottgegangen. Schulden von 200.000 Dollar haben das Paar erdrückt.

Im Vertrauen darauf, dass ein Großteil der Kosten gedeckt sei, unterzog sich Yurdin im Vorjahr zweier Herzoperationen. Üblicherweise übernehmen Versicherungen 80 Prozent der Spitalskosten. Das Versicherungspaket sicherte ihm zwar 150.000 Dollar für einen Krankenhausaufenthalt im Jahr zu, nicht jedoch die teure Behandlung, die Operationen, die Labortests, die Medikamente.

Hätte er das Kleingedruckte der Versicherungspolizze gelesen, wäre Yurdin nun zwar nicht bankrott, würde aber weiter unter Herzflimmern leiden. Und hätte er mit der Operation bis zu seinem 65. Geburtstag zugewartet, wäre er automatisch in den Schutz des staatlichen Medicare-Programms für Senioren gefallen, das wie Medicaid – für Kinder und einkommensschwache Familien – für die Kosten aufkommt.

So wie den Yurdins geht es vielen Amerikanern. Fast zwei Drittel der Privatkonkurse gehen auf Schulden aufgrund medizinischer Behandlungen zurück. Arbeitslosigkeit führt direkt in eine Abwärtsspirale: Der Verlust des Jobs bedeutet meist auch den Verlust der Krankenversicherung. Eine simple Fraktur schlägt da bereits mit mehr als 10.000 Dollar zu Buche.

Absurditäten des Systems

Viele Firmen übernehmen eine je nach Größe und Goodwill des Unternehmens unterschiedliche Form des Versicherungsschutzes für ihre Angestellten, obwohl dies nicht zwingend vorgeschrieben ist. Versicherung ist in den USA an sich eine Privatangelegenheit – Ausfluss der libertären Staatsphilosophie und eines theoretisch umfassenden Freiheitsbegriffs. General Motors etwa wendet für die Gesundheit seiner Arbeitnehmer mehr auf als für Stahl.

Der Fall Yurdin illustriert die Absurdidäten eines Gesundheitssystems, das als das teuerste und ineffizienteste der westlichen Welt gilt. Teure Apparatetechnik, die großzügige Verschreibung von Medikamenten und eine Kette von Untersuchungen treiben die Kosten in die Höhe. Das Einkommen der Ärzte orientiert sich an den Leistungen, die sie am Patienten vornehmen. Um sich vor Gerichtsprozessen zu schützen, schließen sie selbst teure Versicherungen ab.

17 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gehen auf das Konto von Gesundheitsleistungen – und trotzdem stehen 47 Millionen Amerikaner, ein rundes Sechstel der Bevölkerung, ohne jeden Versicherungsschutz da, weil sie ihn sich nicht leisten wollen oder können. Ein Drittel der unter Dreißigjährigen erspart sich eine Krankenversicherung, viele Versicherungen lehnen chronisch Kranke gleich von vornherein ab.

Weil die Spitäler verpflichtet sind, Notfälle zu behandeln, quellen die Ambulanzen über. Stundenlange Wartezeiten sind die Folge. In Städten wie New York oder Washington übernehmen mitunter mobile Arztpraxen, finanziert von privater Hand, die Grundversorgung: Zu fixen Wochenzeiten machen Busse in Wohnvierteln Station, um mittellose Patienten gratis zu behandeln.

Seit Jahrzehnten versucht die Politik, das malade System zu sanieren und die Kostenexplosion in den Griff zu kriegen. Hillary Clinton ist als First Lady grandios gescheitert, weil sie den Kongress im Alleingang vor vollzogene Tatsachen gestellt hat. Barack Obama hat daraus seine Lehre gezogen. Bei der Umsetzung seines zentralen Wahlkampfversprechens, dem Jahrhundertprojekt der Gesundheitsreform, hat er auf eine Kooperation mit dem Repräsentantenhaus und dem Senat gesetzt. Der Regierung in Washington schwebt das Vorbild des Bundesstaats Massachusetts vor, das eine Krankenversicherung verpflichtend vorschreibt – nach dem Modell der Autoversicherung.

Gefahr der Zerfledderung

Doch nun läuft der Präsident Gefahr, dass das Reformwerk von den diversen Interessengruppen zerfleddert wird. Die Reform ist der Knackpunkt seiner innenpolitischen Agenda, und in diesen Wochen vor der parlamentarischen Sommerpause tobt das parteipolitische Hickhack. Die Gesundheitslobbys, die Pharmafirmen und die Versicherungsindustrie wollen ihre Erbpachten nicht verlieren. Und die gegen Steuererhöhungen und staatliche Intervention allergischen Republikaner wettern gegen die geplante „Reichensteuer“, wittern „Sozialismus“ und frohlocken bereits über ein „Waterloo“ des Präsidenten. Aber auch die „Blue Dog“-Demokraten, der konservative Flügel seiner Partei, drohen mit dem Absprung. Die Kosten von einer Billion Dollar lösen in Zeiten eines grassierenden Budgetdefizits Panik aus.

In einer medialen Großoffensive und einer Pressekonferenz zur Prime Time in der Nacht zum Donnerstag versuchte Obama, das Steuer herumzureißen und die Gegenseite unter Druck zu setzen. „Wenn man keine Frist setzt, geschieht gar nichts in dieser Stadt“, ließ er, zermürbt vom Kleinkrieg im Kapitol, verlauten. „Jahr für Jahr haben wir die Reform totgeredet. Eine Politik der Verzögerung und der Pleiten können wir uns nicht länger leisten.“

AUF EINEN BLICK

US-Gesundheitswesen: Die USA rühmen sich, die besten Spitäler und die beste Technologie der Welt zu haben. Doch das Gesundheitssystem ist chronisch krank. Teure Apparatetechnik, unnütze Untersuchungen und Medikamente treiben die Kosten in die Höhe.

17 Prozent des Bruttoinlandsprodukts wendet der Staat für die Gesundheitsversorgung auf, die staatlichen Programme Medicare und Medicaid laufen aus dem Ruder. Zwei Drittel der Privatkonkurse resultieren aus Schulden aufgrund medizinischer Behandlung.

47 Millionen Amerikaner sind überhaupt ohne Versicherungsschutz und im Krankheits- oder Notfall auf die Notaufnahme der Krankenhäuser oder auf Gratisdienstleistungen privater Stiftungen angewiesen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.07.2009)

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