Türkei-Putsch bricht zusammen, mindestens 60 Todesopfer, 750 Putschisten verhaftet

Demonstranten besetzen beim Istanbuler Flughafen einen Panzer der Armee
Demonstranten besetzen beim Istanbuler Flughafen einen Panzer der ArmeeREUTERS
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Teile der Armee setzten am späten Freitagabend zu einem Putsch gegen Präsident Erdogan und seine Regierung an. Der Präsident ist in Istanbul und kündigte Säuberungen in der Armee an. Ein Putschführer soll tot sein.

Der Putschversuch gegen den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan bricht offenbar schon nach wenigen Stunden zusammen. Erdogan landete in der Nacht auf Samstag auf dem Istanbuler Flughafen und wurde von hunderten jubelnden Unterstützern begrüßt. Davor hatten sich bereits Dutzende Soldaten den Polizeikräften ergeben, mindestens 42 Personen starben, viele davon Zivilisten, aber auch mindestens 14 Polizisten, die sich dem Putsch entgegengestellt hatten. Laut Premier Binali Yildirim wurde auch ein Anführer der Putschisten getötet. Über den Verbleib von  Generalstabschef Hulusi Akar ist weiter nichts bekannt, er dürfte von den Putschisten in ihre Gewalt gebracht worden sein. Die Regierung hat kommissarisch Umit Dundar zum Stabschef ernannt.

Unklar blieb, woher Erdogan kam. Medienberichten zufolge war der Staatschef im Urlaub im Badeort Marmaris an der Mittelmeerküste gewesen, als ein Teil der Armee am Freitagabend in der Hauptstadt Ankara die Übernahme der Macht im Land verkündete. Aus dem Umfeld des Präsidenten hatte es zuvor lediglich geheißen, Erdogan sei an einem sicheren Ort. Während des Putsches hatte es Berichte gegeben, Erdogan sei auf dem Weg nach Deutschland, um dort um Asyl anzusuchen.

Erdogan will Armee "säubern"

Erdogan kündigte nach seiner Ankunft ein hartes Vorgehen gegen die Aufständischen an. Er wolle die Armee "säubern", sagte er. Die an dem Aufstand Beteiligten würden die nötige Antwort erhalten werden, unabhängig davon, aus welchen Institutionen sie stammten. Einige Militärs hätten Anweisungen aus dem US-Bundesstaat Pennsylvania erhalten, sagte Erdogan mit Blick auf den Wohnort seines Widersachers Fethullah Gülen. Allerdings distanzierte sich die Gülen-Bewegung von dem Putsch. "Wir verurteilen jede militärische Intervention in die Innenpolitik der Türkei", teilte die Bewegung mit.

Unterdessen verdichteten sich die Anzeichen für einen Zusammenbruch des Putschversuchs. Die Sender TRT und CNN-Türk, die zwischenzeitlich von den Soldaten besetzt worden waren, nahmen ihren Betrieb wieder auf. Rund 30 Soldaten übergaben am Taksim-Platz ihre Waffen an bewaffnete Polizisten, berichteten Augenzeugen. Der Sender NTV berichtete 50 Soldaten seien festgenommen worden. Auf Fernsehbildern waren Polizisten zu sehen, die Soldaten abführten. Laut dem TV-Sender wurden 13 Soldaten bei dem Versuch festgenommen worden, ins Präsidialbüro in Ankara einzudringen. "Die Situation ist weitgehend unter Kontrolle", sagte Ministerpräsident Binali Yildirim. Seinen Angaben zufolge wurden "einige Rädelsführer" des Putsches festgenommen, in jüngsten Meldungen soll er insgesamt von rund 120 gesprochen haben.

Zahlreiche Tote, hunderte Verletzte

Der Militärputsch forderte auch zivile Opfer. Mindestens 60 Menschen seien getötet worden, lautete die vorläufige Bilanz in den frühen Morgenstunden des Samstags, hunderte wurden verletzt.  Laut Augenzeugen waren in der Nähe des Istanbuler Taksim-Platzes und am Atatürk-Flughafen zwei laute Explosionen zu hören.

In Ankara wurde einem Bericht der Nachrichtenagentur Anadolu zufolge das Parlamentsgebäude bombardiert. Bei einem Luftangriff der Putschisten auf das Hauptquartier der Spezialkräfte der Polizei in Ankara seien 17 Polizisten getötet worden. Außerdem sei ein Hubschrauber der Putschisten von F-16-Kampfflugzeugen abgeschossen worden.

Internationale Unterstützung für Erdogan

Erdogan erhielt unterdessen die Unterstützung internationaler Politiker. US-Präsident Barack Obama rief alle Parteien auf, sich hinter die Regierung Erdogan zu stellen, wie das Weiße Haus am Freitag (Ortszeit) erklärte. Auch die EU-Spitzen bekräftigen in einer gemeinsamen Erklärung ihre "volle Unterstützung für die demokratisch gewählten Institutionen" der Türkei. "Wir rufen zu einer raschen Rückkehr zur verfassungsmäßigen Ordnung auf", betonten EU-Ratspräsident Donald Tusk, EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini. Ähnlich äußerte sich NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Der Sprecher der deutschen Bundesregierung, Steffen Seibert, teilte mit: "Die demokratische Ordnung in der Türkei muss respektiert werden."

Hinter Erdogan stellte sich auch Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu. "Dieses Land hat viel unter Putschen gelitten. Wir wollen nicht, dass es die gleichen Probleme wieder erlebt", sagte der Chef der kemalistischen CHP, die traditionell dem Militär nahesteht.

Die Armee hatte am Freitagabend die Übernahme der Macht in der Türkei verkündet, das Kriegsrecht ausgerufen und eine Ausgangssperre verhängt. Die Armee bezog an strategisch wichtigen Punkten in Istanbul und Ankara Stellung. In einer Erklärung, die Putschisten im Staatssender TRT 1 verlesen ließen, hieß es, mit dem Putsch sollten unter anderem die verfassungsmäßige Ordnung, die Demokratie und die Menschenrechte wiederhergestellt werden. Erdogan rief die Türken auf, sich der versuchten Machtübernahme auf der Straße entgegenzustellen. Tausende Menschen folgten seinem Aufruf.

Flüge gestrichen

Das Außenministerium rief die Österreicher in der Türkei auf, angesichts des Militärputsches "an einem sicheren Ort" zu bleiben. Die Telefone der Beratungshotline (0043-1-90115-4411) "laufen heiß", erklärte der Sprecher des Außenministeriums, Thomas Schnöll, gegenüber der APA am späten Freitagabend. Etwa 3.300 Österreicher halten sich in der Türkei auf.

Mehrere Fluggesellschaften strichen ihre Türkei-Verbindungen. Niki (Air Berlin) strich einen Flug nach Antalya, der um 4.35 Uhr in Wien abheben sollte, die AUA einen für 5.15 Uhr geplanten Flug nach Dalaman. Auch die beiden Rückflüge, die um 10.40 Uhr (Niki, Antalya) und 11.10 Uhr (AUA, Dalaman) ankommen sollten, wurden gestrichen.

Spontandemo in Wien

In Wien sammelten sich vor der türkischen Botschaft laut einer Schätzung der Polizei bis zu 4000 Demonstranten zu einer Spontan-Kundgebung. Sie zogen später von der Botschaft in der Prinz-Eugen-Straße in Richtung Innenstadt. Ein großes Polizeiaufgebot war vor Ort, die Demo verlief vorerst aber weitgehend friedlich.

(APA/AFP/dpa/Reueters)

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