Sonderregeln, Rabatte und eine lange Hassliebe

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Seit dem EG-Beitritt 1973 war es mit Großbritannien nie einfach. Wie andere kämpfte es um seine Interessen, doch es brachte sich auch um Chancen, die EU zu gestalten.

Wien/London. In den Abendstunden des 20.März 1984 eskalierte die Debatte. Bei einem Gipfeltreffen im Schloss Val-Duchesse nahe Brüssel ging es um die Frage, ob Großbritannien einen Rabatt für seine Zahlungen an die Europäische Gemeinschaft erhalten sollte. Margaret Thatcher spielte alle Härten und Ressentiments aus. Sie verwies vor dem anwesenden französischen Präsidenten, François Mitterrand, auf den verlorenen Kampf der Franzosen im Zweiten Weltkrieg. Damals hätten die Briten durchgehalten, „als Sie auf dem Kontinent schon zusammengebrochen waren“. Sie richtete sich auf, funkelte in Richtung Mitterrand. Und dieser verlor nun auch die Contenance: „Sie gehen zu weit, Madame.“

Der EG-Gipfel wurde abgebrochen. Die Stimmung war auf dem Tiefpunkt. 1,1 Milliarden ECU, damals rund 2,8 Milliarden D-Mark, hatte Mitterrand der britischen Regierungschefin angeboten, aber sie wollte mehr. „Die Europäer wären erleichtert, wenn Großbritannien wieder austreten würde“, schnaubte der griechische Regierungschef, Andreas Papandreou, nach dem Treffen. Noch im selben Jahr setzte sich Thatcher allerdings durch. Zwei Drittel des Beitrags des Nettoanteils der Mitgliedszahlungen wurden dem Land erlassen, weil es nicht wie andere von der gemeinsamen Agrarpolitik profitieren konnte. Die Eiserne Lady hatte in einem Punkt gesiegt. Aber das Verhältnis zur Gemeinschaft verbesserte sich dadurch nicht.

Stinkbombe gegen die Queen

Die schwierige Beziehung begann bereits kurz nach dem Beitritt im Jahr 1973. Die Feier zur Aufnahme in die EG wurde von Protesten und einer Stinkbombe gegen die Queen begleitet. Premierminister Edward Heath, der sein Lebenswerk verwirklicht sah, wurde ausgepfiffen. Die linke Opposition und die Gewerkschaften fürchteten einen Siegeszug des Kapitalismus, die Rechten das Ende der nationalen Selbstbestimmung. Oppositionschef Harold Wilson von Labour sah seine Chance gekommen. Er versprach ein Referendum über den Austritt aus der Gemeinschaft, sollte er die Unterhauswahlen 1974 gewinnen. Als 1975 diese Volksabstimmung tatsächlich stattfand, waren die großen Parteien des Landes in sich gespalten. Sowohl bei Labour als auch bei den Tories gab es Befürworter und Gegner der Mitgliedschaft. Margaret Thatcher, die später einen extrem Brüssel-kritischen Kurs verfolgte, kämpfte damals noch für einen Verbleib. Die Bevölkerung entschied sich schließlich mit einer deutlichen Mehrheit von 67,2 Prozent für die EG-Mitgliedschaft. Doch auch das Ventil des Referendums, über das weniger rationale als eher emotionale Anti-EG-Stimmungen verpufften, führte zu keiner nachhaltigen Stabilisierung.

Jeder Premier musste eine Gratwanderung zwischen wirtschaftlichen Interessen, die für eine Teilnahme am Binnenmarkt und an der Weiterentwicklung der Gemeinschaft sprachen, und dem mit jedem dieser Schritte verbundenen Verlust nationaler Souveränität vollziehen. Nackte Zahlen auf der einen standen dem schwer quantifizierbaren, aber emotionsbeladenen nationalen Stolz auf der anderen Seite der EU-Medaille gegenüber. Dazu nährten britische Boulevardmedien regelmäßig historische Ressentiments gegenüber Deutschland und Frankreich.

Als Thatcher 1979 die Tories zurück an die Macht brachte, schwenkte auch sie bald auf einen euroskeptischen Kurs ein. Sie setzte nicht nur den Rabatt bei den Nettozahlungen durch, sondern bremste auch alle Pläne für ein politisches Zusammenrücken der Mitgliedstaaten, wie es vom deutschen Bundeskanzler, Helmut Kohl, und dem damaligen Kommissionspräsidenten, Jacques Delors, propagiert wurde. „Wir haben nicht erfolgreich die Grenzen des Staats in Britannien zurückgerollt, um sie auf europäischer Ebene mit einem europäischen Superstaat und einer neuen Dominanz Brüssels wieder entstehen zu lassen“, sagte sie 1988 bei einer Rede in Brügge. Gegen Ende ihrer Amtszeit versuchte die wirtschaftsliberale Politikerin nicht nur, die Wiedervereinigung Deutschlands, sondern auch die Einführung einer gemeinsamen europäischen Währung zu verhindern. Allerdings erfolglos.

Ihr Nachfolger, John Major, sollte nach dem Willen der Proeuropäer unter den Tories das Verhältnis zur EU wieder planieren. Doch auch er scheiterte. Um sich innenpolitisch über Wasser zu halten, verhandelte er in Brüssel über ein Opt-out bei der Währungsunion. 1992 wurde der Vertrag von Maastricht unterzeichnet. Großbritannien erhielt Sonderregelungen bei der Währung und bei der Sozialcharta.

Es folgten Ausnahmen und Sonderregelungen, die jeder Premierminister als obligate Hausaufgabe erfüllen musste. Als etwa eine Öffnung der Grenzen beschlossen wurde, gingen Frankreich und Deutschland voran. Großbritannien aber blieb eine Insel, die jeden Einreisenden weiterhin kontrollieren wollte. Das Ziel der britischen Regierungen seit Thatcher war es, den europäischen Binnenmarkt voranzutreiben. Wenn in Brüssel die Frage erörtert wurde, ob die EU nun vertieft oder erweitert werden sollte, so war London klar für die Erweiterung. Neue Mitglieder sollten den Binnenmarkt vergrößern, das politische Zusammenrücken aber verwässern.

In der Sache pragmatisch

In den Verhandlungen in Brüssel haben die Briten, wie ein erfahrener österreichischer Diplomat erzählt, aber meist eine pragmatische Haltung eingenommen. „Sie haben zwar stets auf ihre Sonderrechte gepocht. Wenn es um die Sache gegangen ist, haben sie sich einer Lösung aber nie versperrt. Sie waren stets berechenbar.“

Als der Labour-Politiker Tony Blair 1997 zum neuen Regierungschef gewählt wurde, hofften viele auf einen Neuanfang. Blair versprach eine konstruktive Rolle in der EU und schloss sogar einen Eurobeitritt nicht mehr aus. Kurz nach seinem Amtsantritt bezeichnete er die britische Europapolitik seit der Nachkriegszeit als „Geschichte der verpassten Gelegenheiten“.

Tony Blair wollte Europa mitgestalten und setzte auf den Ausbau der gemeinsamen Sicherheitspolitik. Doch seine Begeisterung erhielt bald einen Dämpfer, als sich Deutschland und Frankreich weigerten, an der Irak-Front gemeinsam mit den USA mitzuwirken. Blair hielt am Briten-Rabatt fest und forderte schließlich ebenso wie seine Vorgänger neue Sonderregeln. Als der Lissabon-Vertrag ausgehandelt wurde, sorgte sein Nachfolger, Gordon Brown, dafür, dass die Briten die Grundrechtscharta nicht übernehmen mussten und Opt-out-Rechte bei der gemeinsamen Innen- und Justizpolitik erhielten.

Das deutsche Außenministerium stellt in seinem Länderprofil Großbritannien heute ein nüchternes Zeugnis aus. Sein „Verhältnis zur EU ist ambivalent. Einerseits spielt es auf vielen Feldern eine aktive und treibende Rolle... Es präferiert jedoch die freie, intergouvernementale Zusammenarbeit zwischen Nationalstaaten statt der Bildung überstaatlicher, supranationaler Strukturen.“ Großbritannien, um es weniger diplomatisch auszudrücken, hat die EU vielleicht vor zu viel Machtkonzentration gerettet, ihr aber auch die Chance genommen, sich zu einem demokratisch legitimierten republikanischen Konstrukt weiterzuentwickeln.

Chronologie Großbritannien in der EU

1973

Beitritt und Referendum. Nach dem Beitritt versprach der oppositionelle Labour-Vorsitzende Harold Wilson im Fall seiner Wahl zum Premier ein Referendum über die von den Tories erwirkte Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft. Die Volksabstimmung fand 1975 tatsächlich statt, ging aber mit einer klaren Mehrheit von 67,2 Prozent für einen Verbleib aus.

1979

Streit um Nettozahlung. Die ehemals proeuropäische Tory-Regierungschefin Margaret Thatcher forderte eine Verringerung der britischen EG-Beiträge. Ein Jahr später boykottierte sie einen EG-Gipfel und löste eine Krise der Gemeinschaft aus. Wenig später setzte sie einen Rabatt für die Nettozahlungen durch. Thatcher positionierte sich gegen eine Gemeinschaftswährung.

1990

Neuanfang. Thatchers Nachfolger John Major galt als Proeuropäer. Er versuchte eine konstruktive Rolle in Brüssel zu spielen. Als sich die EG-Regierungen zu einer politischen Union durchrangen, warnte er aber vor zu viel Integration. Schließlich setzte er seine Unterschrift unter den Vertrag von Maastricht, da Großbritannien an der gemeinsamen Währung nicht mitwirken musste.

1997

Konstruktive Rolle. Labour-Premier Tony Blair versuchte den Spagat zwischen einer konstruktiven Rolle in Brüssel und innenpolitischen Erfolgen. Er setzte sich für eine gemeinsame Sicherheitspolitik der EU-Länder ein. Aus innenpolitischen Gründen blieb er aber in Fragen des EU-Budgets hart und verlor bald seine anfängliche Begeisterung für das Europathema.

2010

EU-Referendum. Tory-Premier David Cameron stellte bereits in seinem Wahlkampf ein EU-Referendum in Aussicht. Er will Kompetenzen aus Brüssel zurückholen. Im Anschluss an die Neuordnung der Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU soll eine Volksabstimmung abgehalten werden. Er selbst wolle das Land in der Union halten, versicherte er mehrmals.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.04.2015)

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