Ronald Biggs: Der berühmteste Posträuber ist 80

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„I love Vienna“ – ein Interview, ganz ohne Honorarnote.

Es sei kleinlaut eingestanden: In 44 „Presse“-Jahren durfte ich nur ein einziges Mal einen Räuber interviewen. Ansonsten keinen Dieb, keinen Hehler, keinen Einbrecher, keinen Panzerknacker. Mitunter Lügner, Bankrotteure, Heuchler, Korruptionisten – das schon. Man hatte es täglich mit Politikern zu tun.

Aber nur einem Räuber. Jedoch: Was für einer! Eine Weltberühmtheit. Ein Posträuber. Eigentlich der Posträuber. Am 8. August wird er 80 Jahre alt. Nach zwei Schlaganfällen kann er nicht mehr sprechen, er liegt streng bewacht in einem britischen Gefängnisspital. Immer noch hofft er, seine Begnadigung erleben zu dürfen. Die Chancen stehen eher schlecht.

Es war Ende Juni 1980. „Ouro Verte“ hieß die Bar an der Copacabana. Eine von unzähligen entlang der Prachtstraße Rios. Vor dem Lokal ein Jaguar mit Chauffeur. An der Theke ein braun gebrannter Sir im Silberhaar, rotes Markenhemd, ganz offensichtlich der Chef dieses Schuppens. Ziemlich cool, dieser Mister Biggs. Woher sein Besucher komme? „Vienna? I love Vienna.“

Ob man ihn auf einen Whisky einladen dürfe? Biggs lachte schallend – und orderte eine ganze Bottle auf Hauskosten. Und erzählte seine Geschichte, wie er sie zuvor schon hundertfach geschildert haben wird.

Ein ganz einfacher Trick

Es war der 8.August 1963, Ronnies 34.Geburtstag. Mit 15 Knastbrüdern (darunter Charly Wilson „Der Schweiger“, Roy James „Das Wiesel“) überfiel er um 3.10 Uhr morgens den königlichen Postzug von Glasgow nach London. Der Zug wurde an einer Brücke in Ledburn, nahe Mentmore, in der Grafschaft Buckinghamshire durch ein manipuliertes Zugsignal zum Stehen gebracht. Einer der Räuber schlug den Lokführer Jack Mills nieder, der noch Jahre später an den Folgen litt.

120 Geldsäcke erbeuteten sie. Inhalt: 2.631.784 Pfund. Das entspräche heute einer Summe von rund 30 Millionen Pfund. Biggs behauptete später, mit dem Geld seien auch fünfzig ungeschliffene Diamanten geraubt worden, mit denen drei vollkommen unbekannte, niemals gefasste Bandenmitglieder entkommen seien. Biggs hat nach eigenen Angaben einen Anteil von 148.000 Pfund bekommen.

Erst Monate später wurden sie von Scotland Yard geschnappt, „Ronnie“ Biggs als Kopf der Bande bekam dreißig Jahre Knast aufgebrummt. Das Geld war weg – und Biggs nach 15 Monaten auch. Mit drei Mithäftlingen überkletterte er die sechs Meter hohe Gefängnismauer in Wandsworth mit Strickleitern und ließ sich auf der anderen Seite durch das ausgesägte Loch im Dach eines bereitstehenden Möbelwagens fallen.

Nach einer Gesichtsoperation in Paris tauchte der meistgesuchte britische Verbrecher schließlich in Brasilien auf. In Rio. In einer Villa im nobelsten Viertel, Hanglage, Swimmingpool. Das Haus gehörte einer jungen, hübschen Brauereierbin, die dem eleganten Flüchtling bald mit Haut und Haaren verfallen war. Ein Söhnchen kam gerade zur rechten Zeit auf die Welt – damit war Biggs für lange 18 Jahre vor den Nachstellungen der Interpol gefeit. Die Brasilos durften ihn nicht abschieben. Wollten das auch gar nicht, denn der berühmte Zuwanderer wurde zur Medienattraktion. Gegen gutes Geld verkaufte er seine Story.

Rührselige Story

Aber weil er „Vienna“ dermaßen liebte, tat er's diesmal auch ohne Honorar. Heimweh, Mr. Biggs? „Nein, damit hat das nichts zu tun. Ich lebe hier ein großartiges Leben. Aber ich habe keine gültigen Papiere. Ich will, dass man mich endlich begnadigt, damit ich britische Papiere bekomme. Mein Sohn soll endlich meinen Namen tragen können.“

Klang irgendwie rührselig, das Ganze. Immerhin zählte die Welt ihn zu den cleversten Verbrechern der Kriminalgeschichte. Wie kam er auf die Idee für den Supercoup? „Ich war schon 1949 im Gefängnis, wegen eines kleineren Dings. Da hat mir einer erzählt, dass Geld mit der Bahn transportiert wird. Ja, und dann begann ich zu planen...“

Wie fühlt sich solch ein Mann? Als Verbrecher? „Keine Spur! Ich habe ja kein Verbrechen gemacht, sondern einen Trick. Das ist kein Verbrechen. Das ist so, wie wenn jemand im Waschraum sein Sakko aufhängt, und der Nächste nimmt es sich. Die ganze Welt besteht aus Tricks.“

Wo blieb das ganze Geld?

Ob er geschossen hätte, wenn er in Gefahr gewesen wäre? Zugegeben, eine wenig originelle Frage. Biggs hob pathetisch sein Glas: „Never! Wir waren doch alle unbewaffnet. We only had sticks...“ Und – lieben Sie Geld? „Nun, sagen wir, es ist sehr hilfreich.“

Wohin verschwand der Schatz? Das war so ziemlich die einzige Frage, die der Gentleman mit einem Lächeln überhörte. Sein Leibwächter, der inzwischen ins Lokal gekommen war, sprang für seinen Herrn und Meister in die Bresche: Wortreich versicherte er, dass Biggs keinen Cent, keinen Cruzeiro besitze. Nur Platten- und Büchertantiemen hielten ihn über Wasser. Und eben gute Freunde, die für den Verarmten sorgten. Er sei illegal nach Brasilien eingereist, habe keine Papiere, keinen Führerschein, keine Arbeitsbewilligung, müsse aber für den (damals sechsjährigen) Sohn sorgen. Einmal wöchentlich müsse sich Mr. Biggs bei der Polizei von Rio melden.

Biggs, die Legende, orderte eine zweite Flasche Whisky. Was erleidet man nicht alles für eine gute Story? Biggs erzählte uns von seinem verzwickten Privatleben. Seine geschiedene Frau Charmaine lebte in Australien, einer der beiden Söhne aus dieser Ehe war dort bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Bei der wohlhabenden Brasilianerin Raimunda fand der Flüchtling eine luxuriöse Verschnaufpause. Sie schenkte ihm den Sohn Michael, heiratete wenig später einen Schweizer, hinterließ aber dem Geliebten den Sohn quasi als „Lebensversicherung“. „Wir hatten eine Affäre miteinander“, kommentierte Biggs kühl lächelnd. Das „Superhirn“ plante offensichtlich alle Aktionen generalstabsmäßig.

„Grüße an die Queen“

Bald jedoch wurde dem „Wirtschaftsflüchtling“ das Luxusleben zu eintönig: Tagsüber Zuckerrohrschnaps am Pool, abends in die Bars mit Begleitschutz. „Ich brauche das Risiko. Als im Vorjahr die Marine Ihrer Majestät der Queen im Hafen von Rio ankerte, feierte ich mit den Offizieren – unerkannt – drei Tage lang. Erst am Landungssteg winkte ich ihnen zurück: Hello, I am Ron Biggs! Grüße an unsere Königin!“

„Hier stiehlt man Ihnen alles...“

Grüße an die ehemaligen Kumpane beim Postraub hingegen gab es nie. Vier von ihnen saßen damals noch im Knast, inzwischen sind alle wieder auf freiem Fuß. Sie dürften ihren Teil an der Beute längst verjubelt haben. Einige sind bereits tot.

Als wir einander trafen, stand Rio schon fußballbegeistert kopf: Am Tag darauf sollte im Maracana-Stadion das Ländermatch Brasilien gegen die UdSSR in Szene gehen. Indigniert musterte Biggs die Menschenmassen draußen vor dem Lokal. Und sorgte – als gewiefter Medienprofi – gleich selbst für die Schlusspointe: „Be careful! Keinen Ausweis mitnehmen, ja kein Geld! Hier stiehlt man Ihnen alles...“
*

2001, nach 35 Jahren Flucht und 30 Jahren in Brasilien, kehrte Biggs krank nach England zurück. Die Boulevardzeitung „Sun“ stellte einen Privatjet und hält seitdem die exklusiven Interviewrechte. Unter seiner neuen Adresse, HM Prison Norwich, soll er die noch ausstehenden Jahre seiner Haftstrafe verbüßen. 2002 heiratete er seine Raimunda de Castro im Gefängnis – im Beisein von Sohn Michael und Enkelin Ingrid.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.08.2009)

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