Ordentliche Orte

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Ordentliche Orte(c) APA (BARBARA GINDL)
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Vom Weinkeller bis zum Lesesaal, von der Bibliothek bis zum Kloster: Es gibt Plätze, die sind so aufgeräumt und still, dass sie im Kopf etwas verändern.

Manche Dinge sollte es im Kompaktformat zum Mitnehmen geben, damit man sie bei Bedarf schnell bei der Hand hat. Etwa, wenn man müde und gereizt in der U-Bahn steht. Oder wenn man spätabends mit einstürzenden Stapeln von Rechnungen kämpft. Oder wenn einem, ganz allgemein, das Chaos des Lebens gerade über den Kopf wächst. Da wäre es gut, könnte man eine Atmosphäre der Ordnung und Stille aus der Hosentasche ziehen. Einfach so. Doch transportable Oasen sind noch nicht erfunden. Noch muss man Orte aufsuchen, um dort in sich zu finden, wonach man mühsam strebt: Überblick, Klarheit, Einsicht, Gelassenheit, Stille, Selbsterkenntnis, Abstand. Oft braucht das Gemüt, das unstete, einen Rahmen, der Gedanke ein Setting, das Talent leeren Raum. Und oft braucht eine Revolution, diese neue Ordnung im Kopf, die alte direkt vor Augen: die ewigen Reihen von Büchern, Weinfässern, bedächtige Mauern – und jemanden, der „Psst“ macht.

Wie die Bücher die Ordnung lernten

Kampf um den Katalog: Wer in die Hofbibliothek kam, musste früher genau wissen, welches Buch er wollte. 

Ruhelos irrt Johannes Müller durch den großen Saal der Hofbibliothek. Er kann es nicht ertragen, dass die Bücher im Prunksaal nicht in systematischer Ordnung aufgestellt sind, wo doch jedermann wisse, „dass Bücher über die Geschichte von Ungarn nicht neben die gehören, welche von der Pathologie handeln, noch Terentius zu den Geschichtsschreibern von Holland“.

Im Oktober 1800 war der Schweizer Historiker zum Ersten Kustos ernannt worden. „Stelle dir vor“, schrieb er an seinen Bruder, „dass über die 250.000 Bücher (der Hofbibliothek) kein Realcatalogus ist“. Mit dem Bibliothekar van Swieten habe er darüber gestritten, der große Aufklärer aber hatte nur lakonisch gemeint, „es sey keine ganz mathematisch bestimmte Eintheilung der Wissenschaften möglich; der eine theile so, der andere so; also sey besser, gar nicht systematisch zu ordnen; es sey auch nicht nöthig, denn wer auf die Bibliothek kömmt, müsse schon wissen, was für ein Buch er haben will“. Müller fasst einen Entschluss: „Den Realcatalogus mache ich nun selbst, einstweilen nur für mich. Heute bin ich gekommen bis Barre.“

Den ersten Katalog der kaiserlichen Bibliothek („Turcica“) vollendete im Herbst 1576 der Bibliothekar Hugo Blotius und widmete ihn Kaiser Rudolph II. Er sollte helfen, sich über den gefährlichsten Feind des Reiches zu informieren. Das früheste Werk der Informationsbeschaffung ist die Bibliotheca universalis des humanistischen Gelehrten Conrad Gesner aus dem Jahre 1545. Der Autor rechtfertigt die Notwendigkeit eines erschöpfenden Verzeichnisses vorhandener und vorhanden gewesener Werke mit dem Verlust von großen Bibliotheken. Gesners Bibliothek ist ein geistiger Ort ohne Mauern, eine Bibliothek im übertragenen Sinn. Universell in ihrem Anspruch bleibt sie ein Versuch, das Weltwissen zu verzeichnen, ehe es zu spät ist.
Im 18. Jahrhundert veränderten Gerhard und Gottfried van Swieten die Hofbibliothek durch gezielten Ankauf der neuesten wissenschaftlichen Literatur nachhaltig. Bald quoll der barocke Bibliothekssaal über, blieben die Bücher unauffindbar. In den Sommermonaten der Jahre 1780 und 1781 wurde neu katalogisiert.

Den Streit um die richtige und vollständige Ordnung der Bibliothek löste die Praxis: Von 1780 bis 1820 sortierten und korrigierten die Bibliothekare der Hofbibliothek unermüdlich die handschriftlichen Zettel des „Josefinischen Katalogs“. Über den Realcatalog ist nichts weiter bekannt. Johannes Müller wurde in der Bibliothek geduldet, mehr nicht. Gottfried van Swieten verkehrte mit ihm brieflich. Am 20. Mai 1804 war die Episode zu Ende. Der Historiker verließ die Bibliothek. Er hatte Bücher gelesen und geschrieben, von der Bibliothek und von der Arbeit der Bibliothekare aber nichts verstanden.

Von Hans Petschar

Mein gemütliches Iglu aus Wörter-Schnee

»Klick« und »Klack«, Windows-Dreiklang, ab und zu ein Zischen: Wie klingt eigentlich der große Lesesaal?

Nach der bekannten Definition ist das Kaffeehaus jener Ort, an dem man nicht zu Hause ist und doch nicht an der frischen Luft. Daran denke ich oft, wenn ich in die Nationalbibliothek gehe. In ihr fühlt man sich geborgen, ist nicht zu Hause, und der Zugluft ausgesetzt ist man auch nicht. Doch die Bibliotheken haben gegenüber den Kaffeehäusern einen entscheidenden Vorteil: Sie sind Orte der Stille. Die Cafés sind durch die Mobiltelefone lauter geworden. Die Lesesäle aber sind Inseln der Stille geblieben.

Natürlich ist sie nicht absolut, keine Totenstille: Im Lesesaal der Nationalbibliothek herrscht eine Kulisse dezenter Geräusche. Man sagt, dass Dirigenten nach jahrelanger Abwesenheit den unvergleichlichen Klang der Wiener Philharmoniker sofort wiedererkannt hätten.
Mir geht es so beim großen Lesesaal. Manche Geräusche sind seit vierzig Jahren gleich geblieben: der dumpfe Klang beim Absetzen eines Bücherstapels am schweren Lesetisch, das helle „Klack“, wenn man den Plastikstab mit der Platznummer ablegt, das leise „Klick“ beim Einschalten der Leselampe.

Andere Geräusche sind dazugekommen: Ab und zu ein Zischen der Luftbefeuchtung. Der Dreiklang der Windows-Fanfare, wenn jemand das Notebook nicht lautlos gestellt hat. Das Ansteckgeräusch der Steckdosen, die es früher nicht gab, die gelegentlichen Durchsagen. Manche Geräusche haben sich verändert: Wo früher Stöckelschuhe klapperten, quietschen heute leise die Sportschuhe.

Der nächste Marx? Seit Jahrzehnten besuche ich – mit großen berufsbedingten Abständen – den großen Lesesaal der Nationalbibliothek. Bin heimisch zwischen Kultur, der riesigen Bücherwand auf der einen Seite, und Natur: dem herrlichen Blick auf den Burggarten. Dazwischen herrscht die Jugend. Mag sein, dass sie sich bei Clubbings volldröhnt – hier jedoch ist sie ruhig. Lesesäle erziehen. Manchmal mustere ich verstohlen die Lektüre meiner Tischnachbarn. Sitzt hier eine junge Ingeborg Bachmann, die ihre Liebe zu Büchern so beschrieb: „Ich nehme keine Drogen, ich nehme Bücher“? Sitzt hier ein Revolutionär, wie einst Karl Marx im Lesesaal des British Museum?

Musil war einige Jahre Bibliothekar, bevor er die Nationalbibliothek im „Mann ohne Eigenschaften“ literarisch verewigte. „Im Tollhaus der Bücher“ heißt das Kapitel, aber so definierte nur der beschränkte Militarist Stumm von Bordwehr den Bücherschatz. Canetti ließ in der „Blendung“ eine Bibliothek in Flammen aufgehen. Doderer schrieb seine Manuskripte vielfärbig im Lesesaal des Instituts für Geschichtsforschung. Was wäre die Literatur ohne Bibliotheken? Was wären die Lesesäle ohne Stille?

Talent braucht Stille. Lesesäle sind Orte der Kontemplation. In Ihrer Stille bilden sich Talente. „Die Bibliothek steht da wie eine Leiter ins Unendliche“, schrieb einst Alfred Polgar. Mir fällt in der Stille des großen Lesesaals immer ein anderes Bild ein, der „stille Strom der Worte“, wie ihn Jacob Grimm in der Vorrede zum ersten Band seines Wörterbuchs so unvergleichlich beschrieb:
„Wie wenn tagelang feine, dichte Wolken vom Himmel niederfallen, bald die ganze Gegend in unermesslichem Schnee zugedeckt liegt, werde ich von der Masse aus allen Ecken und Ritzen auf mich andringender Wörter gleichsam eingeschneit.“
Es ist gemütlich im Iglu der Nationalbibliothek. Und still.

Von Kurt Scholz

Wein unser, der Du bist im Keller

Lange verweigerte er sich dem Diktat des Nutzens. Heute gärt der Wein in der Edelstahl-Erziehungsanstalt.

Es geht um eine Ordnung von gestern, eine heute kaum noch belebte. Ich schreibe das, ohne zu werten. Weit über zweihundert Jahre hatten die Kellergassen, die Presshäuser und die Weinkeller Zeit, so zu werden, wie sie sind, Gefüge, Konturen, Rituale einzutiefen. Jetzt stehen sie da, Denkmäler ihrer selbst, leer, wenn auch mit Beliebigkeit angefüllt, und sie sind ihrem Wesen fremd geworden.
Noch vor wenigen Jahren bestimmte der Wein das Bild. Dem Ertrag entsprachen die Dimensionen: Weinpresse, Keller, Presshaus. Ein wenig Angeberei war schon auch im Spiel. Die Kellergassen haben ihre klaren Strukturen in die Landschaft gezeichnet, den Geländekanten und Hohlwegen folgend. Die Keller darunter sind in den Löss gewachsen, so weit er tragfähige Gewölbe zuließ. Diese Arbeitswelt, Mensch wie Gerätschaft, war für den Wein da, für die Ernte, das Keltern, die Gärung, das Werden und Reifen. Schritte, Handgriffe, die Ordnung der Dinge fügten sich dem Gebot der Erfahrung und dem Diktat des Nutzens. Nur der Wein fügte sich nicht. Doch, umgeben von sanft zwingenden Ritualen und berechnender Zuwendung, blieb ihm nichts anderes übrig, als eines Tages ganz brauchbar zu sein.
Natürlich hatten auch das ehrbare Trinken und der liederliche Suff ihren Platz in dieser Welt, einen feierlichen im Keller, wenn es um das Verkosten, Bewerten und Gewichten ging, einen beiläufigen im Presshaus, weil der Mensch zwischen all der Arbeit ja auch einmal sitzen und reden und genießen will. Aber auch diese mitunter schier uferlosen Augenblicke gebotenen oder geduldeten Müßiggangs waren selbst im ärgsten Rausch fernab der Anarchie. Wein unser, der Du bist im Keller, im Himmel oder in der Hölle, Wein unser, jedenfalls.

Event statt Mysterium. Heute gärt der Traubensaft kontrolliert in der Edelstahl-Erziehungsanstalt. Wer ihn verkosten will, begibt sich nicht mehr in den Bauch der Erde, das Mysterium wird zum Event. Doch Halt: Da lese ich von Winzern, die Jahr für Jahr ihre hölzerne Weinpresse im alten Presshaus feierlich ihre Arbeit tun lassen, entrückt das Terroir beschwören und all die Dinge zwischen Himmel und Erde und Keller . . . und so weiter. Eine neue Ordnung jenseits der kühlen Glätte und genormten Sinnlichkeit moderner Weinwirtschaft? So ganz genau will ich es eigentlich gar nicht mehr wissen. Ich gehe schon geraume Zeit nicht mehr mit der Zeit. Sie möge gefälligst mit mir gehen. Und in meinem Presshaus hat sich über drei Jahrzehnte lang ohnehin kaum etwas geändert, warum auch, ich bin kein Weinbauer. Ich habe einfach Freude an der Geborgenheit in einer alten Welt, gefügt aus Arbeit, Wein und schwermütigem Leichtsinn. In die Weinpresse ist die Jahreszahl 1874 eingeschnitzt. Damals hat Kaiser Josef II. eine Ordnung durch eine andere ersetzt: Krankenhaus statt Armenhaus. Und unten, im Löss, haben tschechische Musiker „1978“ eingraviert, und „Hoffen auf gemeinsames Gebet“. Es hat geholfen, und die neue Ordnung und das neue Leben diesseits und jenseits der Grenze sind angesichts der alten Ordnung und der Friedhofsruhe gar nicht übel.

Von Alfred Komarek

Kloster auf Zeit: Die Suche nach Silentium

Gleichmäßiges Leben ohne Telefon: Seit 50 Jahren kann man kurz ins Klosterleben eintauchen.

Immer öfter klopfen Mitmenschen bei uns an. Sie suchen Ruhe, Abgeschiedenheit sowie eine gewisse Einbindung ins klösterliche Gemeinschaftsleben. Die mächtigen Klostergebäude an gut ausgewählten Plätzen vermitteln wohl auch den Eindruck eines Kraftorts.
Österreich sei „Klösterreich, reich an Klöstern, und reich seien sie auch“, behauptete Baron Schönerer aus Rosenau/Zwettl und prägte damit den heute gängigen Werbebegriff. 1962 bot Abt E. Heufelder (OSB) als Erster in seiner Abtei Niederaltaich mit der Aktion „Kloster auf Zeit“ die Möglichkeit an, als „normaler Mensch“ in Klöster einzutauchen, sich dem wiederholenden Gleichmaß bei Gebet und Arbeit anzuschließen. Telefon und alle Kommunikationsgeräte werden vorher beim Gastpater abgelegt. Denn „Silentium“ steht an den Türen: Schweigen beim Essen, im Refektorium, im Lesezimmer. Vom Morgen bis zum Abend rufen Glockenzeichen alle zusammen. Denn alles gilt allen: „Nennt nichts euer Eigentum, sondern alles gehöre euch gemeinsam“, schrieb Augustinus. „Kloster auf Zeit“ ist heute weit verbreitet. Angst vor Profanisierung liegt hinter uns. Wir im Stift Geras öffneten unser Kloster ab 1970 für Frauen und Männer. Sie können bei uns wohnen, ihr „Tagewerk“ mit Kunst(handwerk) verbringen. Dabei erkannten wir, dass mehr als alles die Begegnung zählt. Ich beendete Führungen daher stets so: „Wenn Sie eines hinter Klostermauern erfahren konnten, dass auch im Kloster Menschen und nur Menschen leben, dann werden wir uns in Hinkunft verstehen.“

von Joachim Angerer

INFO

Hans Petschar ist Direktor von Bildarchiv und Grafiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek. Kurt Scholz ist Vorsitzender des Zukunftsfonds der Republik Österreich – und auch Kolumnist bei der „Presse“. Alfred Komark ist Schriftsteller – u. a. der auch verfilmten „Polt“-Romane. Joachim Angerer ist emeritierter Abt des Prämonstratenser-Chorherrenstifts Geras (NÖ).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.03.2013)

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