Steht Traditionsbewusstsein wirklich für eine bestimmte Gesinnung? Und ein Großstadtflughafen für die weite Welt? Das fragt sich Lena Hoschek seit einiger Zeit und wünscht sich ein paar Antworten.
Wien hat mittlerweile sein eigenes Oktoberfest, Clubs tragen Namen, die auf die Alm, den dazugehörigen Rausch oder Stadel verweisen, Vollholzinterieurs mit echten Astloch-Musterungen tauchen an den vermeintlich mondänsten Orten auf. Trachten sind auch auf einmal wieder allgegenwärtig und werden in Kreisen salonfähig, wo man lange einen weiten Bogen um Dirndlschürzen und Leibkitteln gemacht hat.
Dass sich plötzlich auch reihenweise Magazine so selbstverständlich mit altem Brauchtum und vergessenen Traditionen beschäftigen, wie sie früher den Inneneinrichtungen der neuesten Lokale oder Befindlichkeiten gewisser High-Society-Exponenten ihre Aufmerksamkeit schenkten, fügt sich da auch ganz gut ins Bild. Das ist die eine Seite. Und auf der anderen? Da scheinen Tracht und Tradition noch immer für eine bestimmte, auch politische, Haltung zu stehen – zwischen den brauchtumslobhudlerischen Zeilen erahnt man „Rückwärtsgewandtheit“ als stillen Vorwurf.
Hat sich in den vergangenen Jahrzehnten in diesem Bereich nun etwas getan, oder nicht? Die Ambivalenz hat es schon immer gegeben. Schließlich trug schon Thomas Bernhard selbstverständlich Tracht. Und die Trapp-Familie, die in „Sound of Music“ porträtiert wird, ging in Trachtenkleidern nicht nur auf Welttournee, sondern auch in den Widerstand.
Und dann gibt es noch eine andere Verwirrung, die ständig auftaucht – die zwischen Provinz und Provinzialität. Dazwischen liegen Welten. Provinz ist gut, Provinzialität böse. Ein Beispiel: Fliegt man vom Flughafen Graz weg oder kommt dort an, geht alles schnell, problemlos und effizient. Versucht man das Gleiche am Flughafen Schwechat, wird es hingegen grimmig.
Das alte Terminal war noch schöne österreichische Provinz. Marmorboden, große Halle und ein paar Souvenirgeschäfte, ziemlich Wien. Und jetzt? Jetzt geht es zum schwarzen Skylink, und man fragt sich ehrlich: Wollten die Erbauer durch künstlich angelegte, lange Strecken, die jeder Passagier zu bewältigen hat, großstädtisch wirken? Wer in der Gepäckhalle aufs WC muss, sollte einen Wandertag einlegen.
Soll Wien jünger wirken, wenn statt genügend Sitzmöglichkeiten auf einmal schwarze Turngeräte zum Warten bereitstehen? Heißt das: Ältere oder marode Fluggäste brauchen wir nicht? Vielleicht sollen sie auch einfach abgehalten werden, den Flughafen zu benützen, an den Schrägen hauen sich schon genug Leute den Kopf an.
Und dann die Enge: Die Rolltreppenschächte möchten wohl suggerieren, dass die Wiener schlanker als andere sind: quasi ein Magermodel-Exit? Dazu passt auch die Farbe Schwarz: Die will eigentlich keiner beim Reisen sehen, irgendwer muss wohl das Fabios vor Augen gehabt haben. Warum ich das alles schreibe? Weil es für mich den Unterschied zwischen der vermeintlichen „Provinz“ Graz, Klagenfurt, Salzburg und einer an allen Ecken und Enden hervorlugenden „Provinzialität“ in Wien so deutlich vor Augen führt.
Für die folgenden Seiten habe ich mir gewünscht, dass eine Auseinandersetzung mit Themen wie Provinz und Tradition die Autoren weiter wegführt als nur bis zum nächsten Flughafen. Ich wollte zum Beispiel etwas darüber lesen, wie in Altaussee zwischen „Dasigen“ und Ortsfremden unterschieden wird und wie gespalten das Verhältnis der Einheimischen zu ihren ewigen Gästen ist.
Und ich wollte wissen, ob traditionelle Kleidung eine bestimmte Gesinnung impliziert. Und wie schaut es eigentlich mit Jugendkultur auf dem Land aus, wie mit der, sagen wir, Ideengeschichte der Tracht? Ich wollte aus verschiedenen Blickwinkeln vorgeführt bekommen, wie sich Traditionen wiederentdecken lassen und wie sie vielleicht sogar progressiven Charakter annehmen können. Den haben sie nämlich.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.03.2013)