Déjà-vu

Angela Merkels Kapitulation vor Macron

Europas Zukunft. Das Programm des französischen Staatspräsidenten ist durchdrungen von zentralstaatlichem Dirigismus. Dieses Verständnis von Wirtschaft und Politik möchte er ganz Europa aufzwingen. Berlin hat sich gefügt.

Der österreichische Bundeskanzler rief bei der Münchner Sicherheitskonferenz, die unter dem Namen „Wehrkundetagung“ gegründet worden war, zur Verteidigung des jüdisch-christlichen Erbes Europas auf. Das ist bemerkenswert: Ein junger Mann, der dort wohl mit neugierigem Interesse betrachtet worden ist, erinnert die europäischen Spitzenpolitiker daran, aus welchen Quellen das Europa, um dessen Sicherheit und künftige Rolle in der Welt sie sich Sorgen machen, eigentlich schöpft.

Manchen wird das als irgendwie deplaziert vorgekommen und peinlich gewesen sein. Da sich doch die EU einem teilweise aggressiven Säkularismus verschrieben hat und alles tut, um das Christentum aus dem europäischen Gedächtnis zu verdrängen. Dass Sebastian Kurz ausgerechnet ein Franzose mit dem Hinweis widersprach, die Berufung auf das Christentum sei der Integration von Moslems hinderlich, ist nicht ohne Ironie. Als ob der Laizismus, Frankreichs inoffizielle Staatsreligion, bei der Integration von Muslimen besonders erfolgreich wäre.

Schwächelndes Europa

Das war nur eine Episode auf der Tagung, aber vielleicht eine charakteristische: Es könnte nämlich die auf der Konferenz lebhaft beklagte Schwäche Europas auf der Weltbühne mit der Selbstvergessenheit des Kontinents zu tun haben, die sich dann in mangendem Selbstvertrauen niederschlägt.

Nicht minder charakteristisch war wohl auch die Rede der deutschen Verteidigungsministerin, Ursula von der Leyen, die nicht über den lamentablen Zustand der Armee sprach, für die sie die Verantwortung trägt, sondern über Entwicklungshilfe. Darüber wandten sich, wie beobachtet wurde, etliche Zuhörer gelangweilt ab. Dafür sprach der polnische Ministerpräsident, Mateusz Morawiecki, Klartext: Europa brauche „mehr Steeltanks als Thinktanks“.

Kurz wiederholte seine bekannte europapolitische Linie: mehr Subsidiarität statt Brüsseler Zentralismus, dafür engere Zusammenarbeit in den wichtigen Dingen – Migration, Schutz der Außengrenzen, Verteidigung. Dabei verwendete er ein neues Bild , das eine offene Kritik am bisherigen Europa enthält und das etwa Jean-Claude Juncker so nie zugeben würde: Europa sei mehrmals „falsch abgebogen“. An welcher Kreuzung, sagte der Kanzler nicht.

Denken könnte man an die Erweiterung um Rumänien und Bulgarien oder an die Griechenland-„Rettung“. Wie man ihn kennt, hat Kurz sicher auch die mangelnde Entschlossenheit gemeint, die große Migrationswelle der Jahre 2015/2016 zu stoppen. Wohlfeil ist seine Forderung nach mehr gemeinsamen Verteidigungsanstrengungen, das sagt heute jeder europäische Regierungschef. Nur der Pole wagt zu sagen, dass man dafür auch viel mehr Geld braucht.

Entscheidend ist aber etwas ganz anderes: Österreich wird in der zweiten Hälfte dieses Jahres den EU-Vorsitz haben. Was wird Kurz sagen und tun, wenn er die Position, dass Österreich und andere Nettozahler die Ausfälle im EU-Budget durch den Brexit nicht ausgleichen wollen, stillschweigend geräumt haben wird? Angela Merkel hat schon versprochen, dass Deutschland mehr zu zahlen bereit ist. Kann und will Österreich sich einem künftigen zentralistischen Europa nach französischer Vorstellung und unter französischer Führung mit Deutschland als Juniorpartner entgegensetzen? Sucht er dafür Verbündete unter jenen Euroländern, die letztendlich auch Zahler sein würden? Die Osteuropäer wollen ein solches Europa zwar auch nicht, aber sie zählen wenig, weil sie keine Euromitglieder sind.

Junckers Handschrift

Über der Aufregung, dass Merkel der SPD den Finanzminister in einer künftigen Regierung überlassen hat, ist nahezu untergegangen, dass die Weichen zu einem anderen Europa schon im Sondierungspapier vor den eigentlichen Koalitionsverhandlungen getroffen worden sind. Das Dokument beginnt nicht etwa mit Vorhaben und Reformen in Deutschland, um die es ja bei einer Regierungsbildung primär gehen sollte, sondern mit dem Kapitel Europa. Darin hat Martin Schulz alles untergebracht, was er und Juncker sich wünschen; bis hin zu einer EU als Sozialunion, was sie nie sein wollte. Juncker sagte ganz offen, dass er es war, der eigentlich dieses Kapitel geschrieben habe.

Der französische Präsident, Emmanuel Macron, ist ein Vertreter des seit 300 Jahren in Frankreich herrschenden Etatismus. Sein Programm ist durchdrungen von zentralstaatlichem Dirigismus. Dieses Verständnis von Wirtschaft und Politik möchte er auf ganz Europa übertragen. Nicht Wettbewerb und Selbstverantwortung der Staaten für ihre Finanzen, sondern europäisch gesteuerte Umverteilung lautet seine Vorstellung.

Der harte Kern von Macrons Plänen ist eine europäische Wirtschaftsregierung mit einem eigenen Haushalt. Eine solche Regierung der Eurozone solle von einem Euro-Finanzminister geführt werden, der Investitionsmittel vergibt und auch in der Arbeitsmarktpolitik mitredet. Macron gibt offen zu, dass das auf eine Transferunion hinausläuft, bei der die „Starken“ zahlen sollen. Mit den Starken sind vor allem die Deutschen gemeint. Deutschlands wirtschaftliche Stärke „ist in der jetzigen Ausprägung nicht tragbar“, erklärte Macron nach seiner Wahl gegenüber deutschen Zeitungen noch vor seiner Rede an der Sorbonne. „Der Euro als Fortsetzung von Versailles mit anderen Mitteln“, sagt die deutsche Publizistin Cora Stephan dazu sarkastisch. In Italien und anderswo im europäischen Süden findet das natürlich große Zustimmung. Jetzt werde man endlich das „unbarmherzige“ Spardiktat der Deutschen los.

Die Aussichten für ein solches Europa sind tatsächlich günstig. Mit dem Ausscheiden Großbritanniens geht ein mächtiger Fürsprecher einer marktwirtschaftlichen, an Wettbewerb und finanzpolitischer Stabilität orientierten Politik in Europa verloren, auch wenn das Königreich kein Mitglied der Eurozone ist.

Hoffnung bleibt Nationalstaat

Deutschland ist seit Monaten gelähmt und wird auch nach der vorhersehbaren Neuauflage der GroKo aus Schwarz und Rot unter Merkel keine klare Politik haben, die es der von Macron mit großer Wirkung entwickelten Konzeption entgegensetzen könnte. Es ist nicht damit zu rechnen, dass sich das Land so schnell aus der Benebelung der Merkel-Jahre befreit, auch wenn nun einige neue Gesichter bei der CDU auftauchen sollten.

Letztendlich geht es darum, welche Zukunft Europa haben will. An die Perspektive einer „immer engeren Union“, wie es im Lissabon-Vertrag heißt, mit dem Endziel eines Bundesstaates (Schulz hat das noch vor Kurzem propagiert), glaubt heute niemand mehr. Es ist ein Paradox, dass ein postnationales Europa, für das gerade die Deutschen immer bereit waren, eigene Interessen zu opfern, ausgerechnet am ausgeprägten Nationalismus Frankreichs scheitern würde. Der demokratische Nationalstaat bleibt weiter die zentrale Quelle demokratischer Legitimität und politischer Zugehörigkeit. Das ist die Hoffnung.

DER AUTOR

Hans Winkler war langjähriger Leiter der Wiener Redaktion der „Kleinen Zeitung“.

Debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.02.2018)


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