Mistverständnis: Abfall in der Spitzenküche

Fischschuppen, Lake von Dosenmais oder Paprikakerngehäuse: Abfall kommt auch in internationalen Spitzenküchen vor. Als Zutat.

Scheiterhaufen und Frittaten zählen dazu, der Punschkrapfen der Sage nach auch, vom Grenadiermarsch, seiner hanseatischen Variante Labskaus oder den italienischen Arancini, frittierten Bällchen vom Vortagsrisotto, ganz zu schweigen: Budgetfreundliche Restlverwertung gibt es schätzomativ in allen Haushalten in allen Kulturen. Auch in der Gastronomie trifft man immer wieder auf mehr oder weniger freche Restlideen wie den berüchtigten Sonntagsbrunch. Was die gastronomische Ethik betrifft, mag das nicht allen gefallen, ökologisch korrekt sind solche Praktiken zweifelsohne. Und kreativ sind sie auch ein bisschen – man muss sich ja zu jedem Restl etwas Passendes überlegen. Es handelt sich aber immer noch um Lebensmittel oder Teile davon, die tatsächlich zum Verzehr gedacht oder schon zubereitet waren: Frisches Brot wird halt in trockener Form zu Schöberl, schon gekochter Reis zum Auflauf, restliches Gemüse zur Terrine.

Manche Spitzenköche gehen freilich gleich einen Schritt weiter und betrachten Zutaten nicht mit Sparefroh-Augen, sondern eher mit denen eines Vertreters der Arte povera: Was wirft man üblicherweise noch vor oder während der Zubereitung weg, weil es aus haptischen Gründen stört? Was leert man weg, weil es gemeinhin als eklig gilt oder geschmacklich angeblich nichts hergibt? Und welche Schätze liegen hier im Verborgenen?

In den Mittelpunkt

Ferran Adrià, der sein El Bulli schließen wird und so tausenden Foodies die Möglichkeit nimmt, einmal im Leben bei ihm an der Costa Brava zu essen, hat sich immer schon weit in die Mülltonne der kulinarischen Konventionen hineingetraut: Er fischte daraus etwa die üblicherweise immer weggeschnittenen Kerngehäuse von Paprika, die er in Gelee tauchte und so in den Mittelpunkt eines Gerichts rückte. Oder er behielt das milchig-gelbe Wasser von Dosenmais, das für ihn „im Grunde eine wunderbare Gemüsebrühe“ ist, und machte daraus ebenfalls ein Gelee. Auch das Öl aus Thunfisch- bzw. Sardinendosen oder Milchhaut war bei ihm schon Hauptdarsteller eines Tellers    - die Milchhaut füllte und rollte er und servierte sie als Crêpe.

Adrià teilt solche Rohstoffe, die er „Folgeprodukte“ nennt, sogar in Gruppen: Da wären zunächst die Bestandteile eines anderweitig verwendeten Lebensmittels wie die Paprikakerne, weiters solche, die mit einem anderen Produkt mitgekauft werden, wie Maiswasser oder Konservenöl, und drittens solche, die einzeln erhältlich sind, wie Kaninchenohren. Ferran Adrià wollte mit der Praxis der Abfallveredelung aber nicht nur Aufmerksamkeit erwirken, sondern auch ein Statement zur Gleichwertigkeit der Lebensmittel setzen.

Spiel mit dem Ekel

Einem anderen Koch von der Iberischen Halbinsel schreibt man eine Art Abfallgericht sogar als Signature Dish zu, also als Gericht, das automatisch mit seinem Namen verbunden wird: Martín Berasategui aus der Michelin-Sterne-Hochburg San Sebastián mit seiner Rotbarbe mit Schuppenkristallen. Fischschuppen zählen wohl zu jenen Dingen, deren versehentlicher Verzehr ekelbedingtes Würgen auslösen kann. Berasategui aber schuppt weder die Fischhaut, noch entfernt er sie als Ganzes nach dem Garen. Vielmehr übergießt er die Schuppen mit heißem Öl, worauf diese sich ruckartig aufstellen und nun als hauchdünne Knusperkristalle mitzuessen sind.
Auch in deutschen Küchen widmet man sich gezielt quasi den Rändern der Lebensmittelgesellschaft: „Die Aromen liegen vielfach im Verborgenen“, sagt etwa Jörg Sackmann. Und Harald Wohlfahrt behauptet gar: „In der Küche gibt es keinen Abfall.“

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