Die Schöne im Schatten der Serenissima

Schoene Schatten Serenissima
Schoene Schatten Serenissima(c) . (Erwin Wodicka)
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"Klein-Venedig" hat der Leichtigkeit des Seins eine würdige Kulisse verliehen: Chioggia erfreut mit Charme, bescheidenen Preisen, frischem Fisch, Weinen "über die Gasse", einem langen Lungomare und elf Kilometer Strand.

Chioggia. Ungeachtet ihres hohen Alters erfreut sich Chioggia bester Gesundheit. Körperlich wie geistig. Nichts kracht im Gebälk, keine Gichtbeulen wuchern an Brücken, Booten oder Bewohnern, weder auffallende Profilierungs- noch augenfällige Baedeker-Neurosen machen ihr das Leben schwer.

Chioggia zählt zum Veneto, doch touristisch liegt die Lagunenstadt im Niemandsland. Während über die „große Schwester“ Venedig mehr Bücher geschrieben wurden als auf dem Markusplatz lagern könnten, kommen Chioggia gerade mal Fußnoten zu. Dabei gäbe es so manches zu sagen über diese Pfahlstadt im ewigen Schatten der Serenissima. Allein um das Wappentier, eine Art Bonsai-Löwe, der auf der Piazza Vigo thront, kursieren die tollsten Geschichten, die Bände sprechen über das unversöhnliche Verhältnis der beiden meerbusigen Konkurrentinnen.

Der Löwe sieht aus, als hätte ihn sein Schöpfer vorsätzlich geschrumpft. Zahnlos und mit den Zügen einer Hauskatze blickt er schläfrig über den Platz. Von furchteinflößend keine Spur. Was ganz dem Respekt entspricht, so die Chioggioti, mit dem sie seinerzeit die Vorherrschaft Venedigs bedacht hätten. Hinter vorgehaltener Hand wird der flügellahme Kater auch heute noch hämisch „El Gato“ genannt. Die Version der Serenissima hört sich natürlich ganz anders an. Eine verschreckte Katze sei das, die vor der Macht der geflügelten Markuslöwen die Flucht ergriffen habe. Mit eingezogenem Schwanz, versteht sich.

„Ma chissene frega!“ Wen schert's, ist Aldos einziger Kommentar. Hauptsache, die Veneziani fahren rasch wieder heim. Denn die ungeliebten Nachbarn fallen auch heute noch gern über ihre kleine Verwandte her. Bevorzugt an jedem zweiten Sonntag im Monat, wenn der „Mercato dell'Antiquariato“ stattfindet. Zwischen strassbesetzten Vaporetti, großmütterlicher Filethäkelei und dreibeinigen Stühlen ist immer noch mancher Schatz unter dem Plunder vergraben.

Italiens größtes Terrassencafé

Was Aldo ebenso wenig rührt. Er sitzt unbewegt vor seinem Café auf dem prächtigen Corso del Popolo und wartet, bis ihm – und den restlichen 50.000 – die Stunde schlägt. Denn Markttreiben hin oder her, in Chioggia gehen die Uhren rigoros nach einheimischer Zeit.

Und die schlägt nur zweimal pro Tag: am frühen Morgen, wenn die Fischer ausfahren, und am späten Nachmittag, wenn die Anwohner zum Aperitivo eintrudeln. Dann wird die Stadt zu Italiens größtem Terrassencafé, wie Curzio Malaparte es einmal nannte. Der kategorische Trinkerativ wird zum bürgerlichen Gesetz. Die Männer süffeln „Sprizz“, die klassische Mischung aus Aperol, Prosecco und Mineral, die Damen erheitern sich am Prosecco pur. Unter den Arkaden werden Oliven und Spuntini (kleine Fingerfood-Imbisse) geknabbert, über die klingenden Gläser hinweg wird über Gott, die Welt und vor allem die innerstädtische Lage diskutiert. Nicht umsonst diente dieser sonst sehr ruhige Ort als Vorlage für Carlo Goldonis „Krach in Chiozza“. „Se no parlèmo, crepèmo“, liest man dort: Wer nicht redet, stirbt. Den beredten Proseccorunden ist gewiss ein langes Leben beschieden.

Über sieben Brücken

Der Brückenschlag zu dieser Halbinsel der Seligen nimmt mit der SS 309 seinen Anfang. Über 20 Kilometer schlängelt sich der schmale Asphaltstreifen durch die Lagunenlandschaft – vorbei an verwachsenen Kanälen, hochherrschaftlichen Palästen, urwüchsigen Trattorie, einsamen Sandbänken und ausgedehnten Salinen.

Eine alte Steinbrücke stellt die einzige Verbindung zum Festland dar. Auf das die Chioggioti aber keinen Fuß setzen würden: Wozu in die Fremde schweifen, wenn man selbst alles hat, was ein perfektes Klein-Venedig braucht? Neben atmosphärischen Bogenbrücken, verwunschenen Kanälen, hellen Sandstränden, ehrwürdigen Palazzi d'Epoca, von denen die Wäsche hängt oder der Verputz bröckelt, dem zweitältesten, immer noch funktionierenden Uhrwerk der Welt und jeder Menge grundehrlicher Gastgeber besitzt Chioggia zudem den größten Fischmarkt Italiens.

Um drei Uhr früh geht's am „Mercato Ittico“ los. Wer rechtzeitig aus den Federn kommt, wird schon vom Anblick der Flossengebirge satt. Und weil die Chioggioti ein ruhiges Völkchen sind (außer, sie sitzen beim Aperitif) finden die Fischversteigerungen hier noch immer im Flüsterton statt. Brüllen ist strengstens verpönt, vordrängeln ebenso.

Aale, Jakobsmuscheln, Tintenfische, Brassen, Barben, Garnelen – jeder Kochtopf findet seine Einlage. Um später als kulinarische Köstlichkeit wie „boboli de vida“ (Meeresschnecken), bibarasse in cassopippa (Venusmuscheln mit Zwiebeln) oder sarde in saôr (sauer eingelegte frittierte Sardinen) wiedergeboren zu werden. Für kleine Esser gibt es übrigens einen zweiten Fischmarkt (Pescheria) direkt hinter dem Palazzo Granaio, einem gotischen Monumentalbau aus dem 14. Jahrhundert. Die üppigen Reliefs am Eingangstor stehen allerdings ganz im Zeichen der Fleischeslust.

Sandmann und Flaschengeist

„Sand in Sicht!“ Wasserratten und Sonnenanbeter geraten beim ersten Anblick der Sottomarina von Chioggia in Ekstase. Die braven Sandmänner haben hier gut elf Kilometer hellen, feinen Sand aufgeschüttet. Eröffnet wurde das Strandbad 1858, als Chioggia noch unter der k. u. k Fuchtel stand. Seitdem zieht es die Einheimischen ab Mitte Mai in Richtung Lungomare, wo die heiratswilligen NachwuchsLagunari nach alter Tradition noch immer ihre Bahnen ziehen. Und zur Erfrischung zwischendurch gern mal zur Flasche greifen, in der sich Chardonnay, Raboso oder Verduzzo befinden kann.

„Ha una bottiglia?“ („Haben Sie eine Flasche?“), wendet sich die nette Dame der Enoteca auch an mich, als ich unschlüssig zwischen den Fässern flaniere, um den abendlichen Branzino würdig zu ertränken. Die Chioggioti sind sparsam und Flaschen teuer. Wer eine leere Mineralwasserflasche hat, dem werden die Weine gleich vor Ort abgefüllt.

Ausgenommen werden in Chioggia wirklich nur Fische, nie Gäste. Während die große „Schwester“ überteuerte Preise auf überfüllten Plätzen bietet, zählen Touristenzuschläge in Chioggia ebenso wenig zum Alltag wie Nebelbänke oder Warteschlangen. Ein X für ein U machen einem die Bewohner von „Cióxa“ schlimmstenfalls mit ihrem eigenwilligen Dialekt vor.

Und was den Sandmann angeht: Selbst der streut seinen Sand nur an den Strand, nicht dem Besucher in die Augen.

Aschenputtel Chioggia

Schlafen: Palazzo Carlo Goldoni +39/041/40 56 48, www.immobiliarecarlogoldoni.com/

La laguna Blu, +39/393/277 75 28
www.bblagunablu.com/

Märkte & Einkaufstipps: Fisch- und Gemüsemarkt täglich 6–12 Uhr.
Mercato Ittico (für Großeinkäufer) täglich 3–6 Uhr.
Wochenmarkt (Kleidung, Souvenirs, Handwerk) jeden Donnerstag. Antiquitätenmarkt jeden zweiten Sonntag im Monat

Essen & trinken: Ristorante La Grapia, Calle carrara, 160, +39 041 403 076, Mo Ruhetag.
Ristorante Palazzo, Via Felice Cavallotti (calle Palazzo) 368, +39/041/55 07 212, So, Mo Ruhetag. Enoteca del teatro, Calle San Nicolò 468

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.09.2012)

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