Radreise: Der Salzweg ist das Ziel

(c) Benedikt Kommenda
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Auf der Alta Via del Sale durch die See- und die Ligurischen Alpen: eine Challenge für Mountainbiker – und auch kein Spaziergang mit dem Stromrad.

Samstagfrüh, wolkenloser Himmel, die Sonne beginnt die frische Bergluft in Limone Piemonte, unweit der Grenze zu Frankreich, zu wärmen. Einheimische gehen hier ihrer liebsten sportlichen Betätigung am Wochenende nach: Radfahren. Teils einzeln, teils in Gruppen nehmen sie die zwölf Kilometer lange Straße hinauf zum Chalet La Mermotte in Angriff, die letzten sechs Kilometer mit durchschnittlich elf Prozent Steigung. Auch wir sind mit Rädern unterwegs. Nur: Die stehen auf dem Anhänger hinter dem Kleinbus, der uns über 18 steile Kehren emporbringt.

Man sucht nicht gerade den Blickkontakt zu den Bikern draußen; wenn überhaupt, dann schauen sie nur verächtlich auf den Anhänger. Zumal die Räder darauf etliche E-Bikes sind. Oben auf dem Tenda-Pass auf 1800  Metern merken wir allerdings: Wir sind nicht die Einzigen, die sich haben he­rauftransportieren lassen. Auch das Weidevieh, das jetzt von der Alm getrieben wird, ist einmal mit Lastautos auf den Parkplatz vor dem Chalet gebracht worden. Nach dem Abladen trennen sich aber unsere, der Tiere und der Touristen, Wege. Schon deshalb, weil unser Ziel ein ganz bestimmter Weg ist: die Alta Via del Sale, auf der vor Jahrhunderten Salz von der Mittelmeerküste ins Landesinnere transportiert wurde. Vom Straßentunnel, der fast genau unter dem Pass Italien im Norden und Frankreich im Süden verbindet, war noch keine Rede. Er wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch den Berg getrieben und war, mit 3182 Metern, von seiner Eröffnung 1882 bis 1964 der längste Straßentunnel der Alpen.

Befestigt. Auf dem Berg ist es eine „Strada bianca", eine weiße Straße, die nicht wegen des früheren Frachtguts so heißt, sondern wegen ihrer Oberfläche: Schotter. Bloß klingt „Schotterstraße" weniger einladend, als der Weg entlang der Wasserscheide zwischen Roya- und Tanarotal tatsächlich ist: Sanft schmiegt er sich an Mulden und Mugel zwischen den Gipfeln. 3297 Meter misst der Monte Argentera, die höchste Erhebung der Seealpen. Steigungen trüben das Vergnügen auf dem Sattel nicht: Die leise surrenden Elektromotoren helfen auf den E-Bikes so stark beim Treten mit, wie man will, in vier Stufen von Eco bis Turbo. „Es ist wie Fliegen", schwärmt eine Kollegin in der Gruppe; selbst die längste Etappe – 40 Kilometer mit rund 850 Metern summierten Anstiegen – könnte sie „jede Woche machen".

Am Cima Becco Rosso, dem ersten Gipfel von heute, haben wir die Räder in die Wiese gelegt, bevor wir die letzten steilen Meter zum Gipfelkreuz auf 2214 Metern hinaufsteigen. Von hier reicht der Blick weit nach Nordwesten bis zum Monviso (3841 Meter), dem höchsten Gipfel der Cottischen Alpen und Quellort des Po. Zum Greifen nah scheint demgegenüber das Forte Centrale, die größte der Festungsanlagen hier im Grenzgebiet. Der lange, quaderförmige Bau wurde 1880 auf italienischem Boden errichtet. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Gemeinde Tenda – und mit ihr die Festung – an Frankreich abgetreten.

Zu Beginn des Kriegs waren in der Nähe noch Befestigungsanlagen errichtet worden, als Teil des Vallo Alpino Occidentale, des westlichen Alpenwalls. Auch wenn die militärischen Anlagen bezeugen, welch große strategische Bedeutung die Italiener einst dem Alpenübergang an dieser Stelle zumaßen: Die Landesgrenze ist in der Natur hier so gut wie gar nicht zu sehen; nur Einheimische wie unser Guide Erik Rolando – seines Zeichens Italiener – kennen die wenigen Markierungen.

Nur 40 Kilometer Luftlinie weiter im Süden und 1800 Höhenmeter tiefer, nämlich direkt am Meer, da ist die Grenze von ganz anderer Qualität: Die kleine Küstenstadt Ventimiglia, die westlichste vor dem französischen Menton, ist zum Warteraum unzähliger Flüchtlinge geworden, die vergeblich versucht haben, sich von Italien nach Frankreich durchzuschlagen.

Bleiben wir im Norden. Im französischen Tende, dem früheren Tenda, fasziniert das Musée des Merveilles als Galerie der Menschheitsgeschichte: Hier sind geheimnisvolle Felszeichnungen dokumentiert, die Einheimische vor Jahrtausenden – zurück bis in die Kupfer- und Bronzezeit (3200 bis 1700 v. Chr.) – ins Gestein geritzt haben. In einem Raum liegt eine Nachbildung der Ötzi-Mumie in einer Gletscherszene, um den Besuchern die zeitliche Einordnung zu erleichtern. Mit seinen 2872  Metern in die Wolken reichend, hat der Mont Bégo den Menschen hier als Verbindung zwischen Himmel und Erde gegolten. Nicht von ungefähr zeigen jene geritzten Zeichnungen, die als Bilder von Stieren gedeutet werden, die Tiere aus einer göttlichen Perspektive, einer Ansicht von oben: Die Form ähnelt einer Gabel mit breitem Griff und den äußeren Zinken. Nach der gängigen Interpretation deutet der Griff den Rücken des Tieres an, und die Zinken stehen für nach vorn gerichtete Hörner. Viermal das Zeichen im Quadrat zeigt ein komplettes Gespann, ein Zeugnis der frühen Viehwirtschaft. Zehntausende Zeichnungen (Angaben schwanken zwischen 30.000 und 50.000) zieren den Mont Bégo. Es ist Europas größte Ansammlung von Felsbildern im Freien, auf 2400 Metern und den überwiegenden Teil des Jahres unter Schnee. Die Originale können nur sehr eingeschränkt und ausschließlich mit Führern besichtigt werden, keinesfalls aber kommt man mit dem Fahrrad hin.

Grenzübergreifend. Der Wettergott bleibt weiterhin gnädig, als wir wieder auf dem Weg des Salzes radeln. Genauer betrachtet ist das nicht nur ein Weg, sondern ein Wegenetz, das zwischen den granitgrauen Seealpen und den vom Karst weißen Ligurischen Alpen gespannt ist. Das Salz, das mit Maultieren vom Meer über die Berge ins Landesinnere transportiert wurde, war nicht nur als Gewürz von eminenter Bedeutung. Der Wert des „weißen Goldes" rührte auch daher, dass mit ihm Fleisch, Fisch und andere Nahrungsmittel ohne Kühlung länger haltbar gemacht werden konnten. Heute spielt die Alta Via del Sale als Transportweg keine Rolle mehr; statt dessen ist sie das Herzstück eines gemeinsamen touristischen Projekts von Piemont (Provinz Cu-neo), Ligurien und Frankreich (Provence, Côte d’Azur).

Die klimatischen Bedingungen, die von kühlen kontinentalen Strömungen zum einen, von lauen Mittelmeerwinden zum anderen geprägt sind, sorgen für eine ganz eigene und besonders vielfältige Vegetation. Hier stößt man auf rund 2000 Pflanzenarten alpinen, kontinentalen wie mediterranen Ursprungs. Von Mai bis Juli erscheinen ganze Hänge dank der blühenden Rostblättrigen Alpenrose weinrot. Schaut man genauer hin, sieht man unter anderem Butterblumen, Geflecktes Knabenkraut, Schafgarbe, Lichtnelken oder Spitzwegerich. Und man riecht wilden Thymian. Auf eine hier auf 2000 Metern nur einmal vorkommende Pflanze weist uns Erik Ronaldo eigens hin: einen Bergahorn allein in einer windgeschützten Mulde. Kein Vergleich zum ausgedehnten dicht-schattigen Lärchenwald Bosco delle Navette, durch den wir später ins Tal abfahren werden.

Die Hochgebirgsstraße kann, solange kein Schnee liegt, von Wanderern und Radfahrern ebenso benützt werden wie – für eine Maut von zehn Euro – von Motorradfahrern. Sie verläuft über weite Strecken auf 1800 bis 2100  Metern zumeist ohne starkes Gefälle und ohne große Steigungen; so ganz ohne Motor gehen aber auch vergleichsweise bescheidene 850 Höhenmeter Anstiege auf der 40 Kilometer langen Tagesetappe von Chalet Le Mermotte bis Upega in die Beine. Die Stärkung zwischendurch in der Berghütte Don Barbera auf dem Colle dei Signori – Käse, Schinken und Wurst als Vorspeise, Pasta aus einer riesigen eisernen Pfanne für den ganzen Tisch als Hauptspeise – ist wohlverdient.

Ausfallsgesichert. Wer nur mit Körperkraft radelt, muss seine Grenzen kennen; er hat aber den Vorteil, nicht durch einen Ausfall der Elektronik gestoppt zu werden. Das ist in unserer Gruppe nicht nur einmal passiert, und weil ein E-Bike ohne Motor deutlich schwergängiger ist als ein muskelgetriebenes, bleibt nur ein Austausch. Auch dafür hat der Verleih „Smartpower" von Luca Asteggiano im Tal bei Ormea gesorgt. Der Mechaniker empfängt uns in seiner Werkstatt; ein alter Gios-Stahlrahmen, der seiner Restaurierung harrt, wirkt neben dem Mann noch zarter, als er ohnehin ist. Asteggiano hat heuer mit vorerst sieben Fahrrädern den Verleih begonnen und bietet für Notfälle ein Austauschservice in den Bergen an. Mit ausreichend Strom kann man sich bei ihm rüsten, indem man im Rucksack einen Zweitakku mitführt.

Just als wir an einer der malerischsten Stellen kurz haltmachen – eine Haarnadelkurve –, begegnet uns ein anderes Problem: ein Knall, verbunden mit einem Staubwölkchen am Hinterreifen des zweiten Guides, Luca Bertero. Hat jemand auf das Rad geschossen? Das Gegenteil ist der Fall: Der Schlauch im Reifen hat dem Luftdruck von innen nicht mehr standgehalten und ist geplatzt. Das aber ist die Art von Pannen, für die man immer gewappnet sein sollte, mit Reserveschlauch, Reifenhebern und Luftpumpe, ob Stromrad oder nicht. Hinter Asteggianos Haus verläuft übrigens ein ebener Radweg, der auf 25 Kilometern Pievetta im Norden und Ponte di Nava im Süden verbindet.

Wir lassen jedoch die Fahrräder stehen und legen ein paar Stunden konventionellen Tourismus mit dem Bus und zu Fuß ein. Wir fahren nach Garessio, einem alten Borgo im Tanarotal. Ein halbes Dutzend Kirchen auf kleinstem Raum, Wachtürme sarazenischen Ursprungs und Reste eines Schlosses legen von bewegter Geschichte Zeugnis ab. An der kürzesten Straßenverbindung zwischen Ligurischem Meer und Piemont gelegen, kam es zeitweise zu ansehnlichem Reichtum. Der ist mittlerweile passé, doch Traditionen sind noch lebendig: Auf einem großen freien Parkplatz spielen Jugendliche Ciliu: Ein Spieler schlägt mit einem Holzstab auf einen an beiden Enden spitz zulaufenden zweiten Stab am Boden. Und zwar so, dass dieser Stab in weitem Bogen davonfliegt. Der Gegner muss ihn fangen und möglichst präzise dorthin zurückwerfen, wo der Flug begonnen hat. Das wiederholt sich in einem Turnier so oft und so lange, bis der Sieger feststeht.

Das warten wir nicht ab, die letzte Etappe der Alta Via del Sale steht an: von San Bernardo die Mendatica bis in die schmucke ligurische Stadt Triora. Es ist nicht die schönste unserer Fahrten: Wo kühlere Luft aus den Bergen und feuchte Luft vom Meer zusammentreffen, liegt oft dichter Nebel. Wir radeln von rund 1350 Metern Höhe ununterbrochen bergauf bis auf 1800. Erstmals bin ich mit meinem Nicht-E-Bike als Letzter beim Zwischenstopp. Oben nimmt Luca Bertero die miserable Sicht von der heiteren Seite: Er hat, als er die Strecke kurz zuvor probeweise abgefahren ist, ein Foto bei besserer Sicht gemacht: ein kleines Guckloch in der Nebelwand.

Die Abfahrt nimmt er dann beinahe zu locker. Nicht alle in der Gruppe fühlen sich auf dem groben Schotter wohl und lassen das Rad locker laufen. Die voll gefederten schweren E-Bikes liegen gut auf der Straße; niemand stürzt auf dem losen Untergrund. Am Ende brennen nur manchen ein bisschen die Unterarme, als wir nach den drei Etappen mit 100 Kilometern und mehr als 2000 Höhenmetern Anstieg im „Hexendorf" Triora eintreffen. Probleme an Händen und Armen entstehen vor allem dann, wenn man den Lenker zu fest umklammert und sich mit vollem Gewicht darauf abstützt, statt dieses fast ganz auf den Füßen und Pedalen ruhen zu lassen.

Schaurig. Triora ist der letzte Ort der Radreise. Die flächenmäßig große, an Einwohnern aber arme Gemeinde (wenige Hundert auf 68 Quadratkilometern) mit ihrem mittelalterlichen Kern hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Denn das heitere Spiel, das hier mit dem Motiv der freundlichen Hexe getrieben wird, hat einen mehr als nur ernsten Hintergrund: Hier haben im 16.  Jahrhundert im Zuge der Inquisition Hexenprozesse stattgefunden, vorgeblich rechtsförmige Verfahren gegen Frauen – Witwen, Hebammen oder Kräuterfrauen  –, die für Hungersnöte, Epidemien und anderes Leid verantwortlich gemacht worden sind. Dutzende wurden gefoltert, vier auf dem Scheiterhaufen verbrannt, einige ins Gefängnis nach Genua gebracht. Eine der Eingesperrten stürzte sich aus dem Fenster, doch auch die anderen überlebten die Haft nicht. Heute grüßen nicht nur Hexenfiguren von der Ortseinfahrt bis zum Souvenirladen, kann man nicht bloß schaurige Szenerien um Streckbänke oder in einer Höhle besichtigen, wo Hexen den Teufel getroffen haben sollen; nein, ein Museum ist der ernsthaften Aufarbeitung des dunklen Flecks in der Geschichte gewidmet.

Verwöhnt. Zum Schluss sitzen wir bei einem ligurischen Mittagessen in Triora auf der Terrasse des L’Erba Gatta. Gianni und Carla servieren Traditionelles, Regionales: Torta verde (Gemüsetorte), Sügeli (wie Gnocchi, aber ohne Erdäpfel) mit Pecora brigasca (einem besonderen Schaf), Brandacujun (zu Püree geschlagener Stockfisch mit Erdäpfeln, Knoblauch und Öl) und Vitello croccante (knusprig gebratenes, fettes Kalbfleisch). Vor uns liegen unter einer tiefgrünen Walddecke die Ausläufer des Saccarellomassivs. Mindestens ebenso fein wie das Essen wäre eine kleine Ehrenrunde auf den gediegenen Moutainbike-Trails, die eine sehr lebendige Radlerszene im Schatten des nahe gelegenen und glamouröseren Finale Ligure mehr in den Boden als aus ihm heraus gestampft hat. Aber auf Trails rasant downhill zu fahren, das ist wieder eine andere Geschichte. 

Compliance-Hinweis: Diese Reise erfolgte auf Einladung von ATL – Azienda Turistica Locale del Cunese

Info

Radverleih: Smartpower in Ormea, www.smart-power.it
Cuneo Alps Bike Experience in Cuneo, www.cuneoalps.it

Alta Via del Sale: Durch die Seealpen und die Ligurischen Alpen in mehreren Etappen: von Casterino über den Col de Tende nach Limone Piemonte (35 km, 700 Hm bergauf, 1260 bergab), vom Chalet le Marmotte über den Colle dei Signori bis Upega (40 km, 855 Hm bergauf, 1341  bergab), von San Bernardo di Mendatica über den Colle del Garezzo bis Triora (26 km, 520  Hm bergauf, 1275 bergab).

Hotel: „Fiocco di Neve Relais" in Limone Piemonte, 4 Sterne, Spa.

Essen: La Taverna degli Orsi in Limone Piemonte, L’Erba Gatta vino e cucina in Triora, www.erbagatta.it

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