Sie haben aufgepasst

Alice Uhl (l.) und Agnesa Isufi fungierten als Ansprechpersonen am Ring.
Alice Uhl (l.) und Agnesa Isufi fungierten als Ansprechpersonen am Ring.(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Wie jene Woche ablief, in der hunderte Menschen Bilder von Holocaust-Überlebenden bewachten. Und warum sich heute alle wiedertreffen.

Am Montag, dem 27. Mai, hatten viele Menschen in Österreich die gleiche Idee. Einer von ihnen war Agnesa Isufi, die auf dem Weg in die Arbeit davon las, was am Wiener Ring passiert war.

Schon am Freitag zuvor hatte Isufi versucht, den Fotografen Luigi Toscano zu erreichen. In jener Woche war sie zunächst einmal an dessen Freiluft-Ausstellung vorbeigefahren, einer langen Reihe an Porträts von Überlebenden des Holocaust. Wenig später hatte sie einige der Bilder beschmiert gesehen. Als Leiterin der Young Caritas sucht Isufi sich mit Jugendlichen gern „random acts of kindness“: spontane Gesten, die jemandem Freude machen. „Ich wollte wissen, wie man die Bilder reinigen kann“, erinnert sie sich. Sie sei aber nur auf Toscanos Mailbox gelandet „und dachte, Montag würde auch reichen“.

#gegendasvergessen
#gegendasvergessenLuigi Toscano

Montagfrüh hatte dann jemand den Porträts ganze Teile aus den Gesichtern geschnitten. „Österreich, was ist los mit dir????“, fragte Toscano fassungslos auf Facebook. Fünf, vielleicht zehn Minuten lang saßen Isufi und ihre Kollegin Alice Uhl bei Zigaretten und Kaffee im Büro. Dann fuhren sie in Richtung Heldenplatz.

„Wir sind viele“

Dort warteten schon Mitglieder der Performancegruppe Nesterval. Und eine junge Frau der Muslimischen Jugend. Ihr aller Gedanke: „Wir passen auf die Bilder auf.“ Später kamen die Pfadfinder, die jüdische Hochschülerschaft. Und viele, viele Menschen, die keiner Organisation angehören.

Zunächst wurden Sessel organisiert. Caritas-Direktor Michael Landau rief an. Er sei noch in einem Termin mit dem UN-Generalsekretär, komme dann aber gleich vorbei. Ab dann, erinnert sich Alice Uhl, hätten sich die Ereignisse überschlagen, ist es schwer, sich an die Chronologie zu halten. Jemand von der Gewerkschaft brachte ein Zelt. Ein Mitarbeiter der Berufsfeuerwehr kam mit einem Sack voller Wurstsemmeln und blieb. Menschen brachten Kaffee und Kuchen oder tauchten, unabhängig voneinander, mit Nähzeug auf und begannen, die zerstörten Bilder zu flicken.

„Wir sind viele“
„Wir sind viele“Luigi Toscano

Und immer wieder die Frage: Wie kann man helfen? Den Bürgermeister bat man, nachts die Polizei vorbeizuschicken. Es war Ramadan, die Muslimische Jugend, darunter viele Mädchen, hatten die Nachtschichten übernommen, man wollte sie in Sicherheit wissen. Ein Rabbiner schenkte ihnen Essen. Um vier Uhr morgens kam täglich die Ablöse, die Theaterleute koordinierten die Schichten der Wache.

Die ganze Zeit über sei die Stimmung am Ring besonders gewesen, sagt Isufi. „Persönlich“ treffe es am ehesten. Man war mit allen per Du, nahm fremde Menschen in den Arm, weinte miteinander, so betroffen seien viele gewesen. Spätestens am Dienstag, erzählt Alice Uhl, habe sie damit begonnen, die besonders Deprimierten zu trösten: „Die gute Nachricht war: Wir passen auf. Wir sind viele. Und wir halten zusammen.“

Und immer seien neue Menschen aufgetaucht, In- und Ausländer, religiös oder nicht. Stadtpolitiker, der Bundespräsident, Omas gegen rechts. Israelis bedankten sich. Ein Chor sang Widerstandslieder. Ein achtjähriges Mädchen kam mit seiner Mutter und zwei Stapeln Papier. Darauf stand, in Anlehnung an Ibiza, „So sind wir nicht“, auf jedem Blatt eine andere Blume. T-Shirts wurden gedruckt. Restaurants lieferten Getränke. Am Donnerstag wurde vor dem Heldentor Fastenbrechen gefeiert. Stunden-, tagelang Regen und Kälte getrotzt.

Luigi Toscano war an jenem Montagmorgen ebenfalls in Wien gelandet, wollte eigentlich eine gemütliche Woche vor dem Abbau der Ausstellung verbringen. Um sieben Uhr morgens erreichte ihn im Taxi die erste SMS. Statt ins Hotel fuhr er zum Ring. „Da stand ich dann allein ziemlich früh mit meinen zwei Koffern und war fassungslos.“ Als „emotionale Achterbahnfahrt“ bezeichnet er das, was folgte.

Seit gestern ist er wieder in Wien. St. Pölten möchte die Ausstellung zeigen, auch Graz und Linz. Städte in Deutschland und den USA interessieren sich dafür, was genau da in jener Woche in Wien passiert ist. Das will er hier nun mit den Beteiligten besprechen. Und natürlich ist er heute Abend auch bei dem Konzert dabei, das für alle Freiwilligen im Museumsquartier stattfindet. Das haben Uhl und Isufi gemeinsam mit dem ehemaligen Radiomoderator Matthias Euler-Rolle organisiert, als Dankeschön – und damit sich alle noch einmal wiedersehen.

AUF EINEN BLICK

„Gegen das Vergessen“ heißt die Ausstellung von Luigi Toscano, für die er Überlebende des Holocaust fotografiert hat. Bei ihrer Station in Wien wurde die Ausstellung Ende Mai dreimal beschädigt. Daraufhin formierte sich eine Mahnwache, die die Bilder eine Woche lang bis zum Ausstellungsende beschützte. Heute, Samstag, sind alle Freiwilligen zu einem Fest ins Museumsquartier geladen. 19.30 Uhr, mit Fuzzman und Hor 29 Novembar. Toscano im Interview:

Web:www.diepresse.com/toscano

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.06.2019)

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