Alle weggefahren

(c) Carolina Frank
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Die Wienerinnen und Wiener fliehen, kaum dass die großen Ferien begonnen haben, aus der Stadt, als wäre der Teufel hinter ihnen her.

Als ich ein Kind war, sagte meine Tante jedes Jahr zu Ferienbeginn: „Wir brauchen nicht wegzufahren, denn bei uns ist es sowieso am schönsten!“ Das erschien mir einleuchtend, denn es war unübersehbar, dass alle Welt zu uns ins Tiroler Dorf wollte. Ich musste zwar nie im Stroh schlafen, aber mein Kinderzimmer für „die Fremden“ räumen. Auf eine Matratze im Elternschlafzimmer zu übersiedeln war ein alljährliches, insgeheim bei meinem Bruder und mir gar nicht so unbeliebtes Ritual. Jedenfalls um einiges beliebter, als die Eckbank in der Küche und den Fernsehplatz im Wohnzimmer für „die Fremden“ freizugeben. Später in Salzburg, der laut Humboldt „schönsten Stadt der Welt“, war es wieder so. Nur, dass die Fremden inzwischen „Gäste“ geworden waren und wir nicht die Betten, sondern die Kaffeehaustische, die Lieblingsplätze am Mönchsberg und die Wege durch die Altstadt räumen mussten. Aber erst seit ich in Wien wohne, wo all die Leute herkommen, die früher zu uns kamen, will ich im Sommer nicht mehr weg. Weil der Platz nicht weniger wird, sondern mehr! Die Wienerinnen und Wiener fliehen, kaum dass die großen Ferien begonnen haben, aus der Stadt, als wäre der Teufel hinter ihnen her. Und zurück bleiben einsame Badeplätze an endlos langen Donauinselstränden, lauschige Gastgärten, in denen man einen Tisch bekommt, für den man noch vor ein paar Wochen Beziehungen hätte haben müssen. Man kann überallhin mit dem Auto fahren und direkt vor dem Eingang parken! Man kann sich jeden Abend spontan für eine der vielen Kulturveranstaltungen entscheiden, weil man nirgends anstehen muss! Einziger Nachteil: Es darf einem nichts ausmachen, dass man das alles allein genießt. Die Freundinnen sind nämlich ALLE WEGGEFAHREN!

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