Auch ein perfektes Gedächtnis irrt

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Die Erinnerung lässt sich narren, mit ganz simplen Tricks. Und das ist nicht nur bei Normalvergesslichen so, sondern auch bei Menschen mit unerbittlichem Gedächtnis.

Mit dem Gedächtnis ist das so eine Sache, die meisten von uns wissen es: An viele Dinge erinnert man sich nur dunkel, an andere gar nicht, dafür tauchen im Gegenzug Dinge auf, die man überhaupt nie erlebt hat. Das ist meistens nicht weiter tragisch, es kann es aber werden, wenn Opfer oder Zeugen von Verbrechen jemanden fälschlich als Täter identifizieren. So war es etwa im September 1984 in einem Haus in Kalifornien: Ein dunkelhäutiger Eindringling überfiel eine schlafende weiße Frau und wollte sie vergewaltigen, andere Hausbewohner wurden darauf aufmerksam, der Mann flüchtete. Die Frau beschrieb ihn detailliert: Er war schwarz, soundso groß, alt und schwer, er trug eine blaue Baseballkappe.

So ein Mann stand nicht weit weg neben seinem Auto auf der Straße, er beteuerte, er habe eine Panne, man nahm ihn fest, er kam vor Gericht. Aber Elizabeth Loftus, Psychologin der University of California, Irvine, bekam ihn frei: Sie erklärte als Sachverständige, wie Angst und Stress die Erinnerung verzerren können, und wie schwer es ist, jemanden mit anderer Hautfarbe zu identifizieren.

Die Frage steuert die Antwort

Und wie leicht es ist, Erinnerungen zu beeinflussen, schon durch die Fragestellung, damit hat Loftus 1974 begonnen: Sie zeigte Testpersonen in einem Film einen Autozusammenstoß und bat sie, die Geschwindigkeit des einen Wagens abzuschätzen: Wie rasch war er, als er den anderen traf („hit“)? Das war die eine Variante, in der zweiten zerstörte („smashed“) ein Wagen den anderen. In der dritten hatten sie Kontakt. Das brachte starke Unterschiede bei der geschätzten Geschwindigkeit, „smash“ trieb die Werte nach oben, „contact“ milderte sie, „hit“ lag in der Mitte. Und bei „smash“ erinnerten sich die Augenzeugen auch an zersplittertes Glas. Von dem war im Film nichts zu sehen.

Seitdem ist Loftus an der Front, bei Gericht und in der Forschung. Unumstritten ist sie nicht, aber im Vorjahr konnte sie es als ihren Erfolg verbuchen, dass das Höchstgericht von New Jersey anordnete, Geschworene zu belehren, wie wenig dem Gedächtnis zu trauen ist (Nature, 500, S.268).

Alle Geschworenen?Nur die meisten von uns haben Probleme mit dem Erinnern, es gibt auch Menschen, die das haben, was Jorge Luis Borges das „unerbittliche Gedächtnis“ genannt hat, eine fotografisch getreue Erinnerung an jedes Detail jedes Lebenstags. Ob sie darunter so leiden wie in Borges' Imagination, ist unklar. In jedem Fall melden sie sich in den USA in großen Zahlen, seit das Phänomen – es heißt „highly superior autobiographical memory“, HSAM, auf Deutsch klingt es eher nach einer Krankheit: hyperthymestisches Syndrom – bzw. ein damit Bedachter in einer Fernsehshow gezeigt wurde. Und 172 von diesen Menschen wurden nun von Loftus und ihrem Mitarbeiter Lawrence Pathitis ins Labor eingeladen.

Erst kam ein allgemeiner Gedächtnistest, 30 der Kandidaten hatten wirklich HSAM, für sie kamen weitere Tests. In einem zeigt man ihnen auf einem PC-Schirm einige Wörter, die um ein Thema kreisten – etwa um das Schlafen: „Bett“, „rasten“ etc. –, nur das zentrale Wort selbst war nicht dabei: „schlafen“. Aber in der Erinnerung taucht es auf, häufig, bei 70Prozent der normal Vergesslichen. Und bei exakt so viel derer mit HSAM.

Gesehen haben, was es nie zu sehen gab

In einem zweiten Test schnitten diese gar schlechter ab: Diesmal wurde eine Fotoserie von einem Verbrechen gezeigt – ein Mann beraubt eine Frau –, und eine Dreiviertelstunde später erhielten die Testpersonen einen Text zu lesen, in dem der gleiche Vorfall beschrieben war. Aber in sechs Details wich die Beschreibung von den Bildern ab. Und jene mit HSAM erinnerten sich bei der anschließenden Befragung, was sie denn auf den Bildern gesehen hätten, viel häufiger falsch, nämlich an das Gelesene, als die anderen.

Sie taten sich dafür im dritten Test schwerer, er war der spukhafteste: Es ging um United Flight 93, eines der entführten Flugzeuge von 9/11, es stürzte in Pennsylvania ab. Diesen Absturz habe jemand zufällig mitgefilmt, das sei dann oft im TV zu sehen gewesen, erzählten die Forscher den Testpersonen: 29 Prozent der „Normalen“ und 20 Prozent jener mit HSAM erinnerten sich, den Film gesehen zu haben. Aber es gibt keinen Film, und es gab nie einen (Pnas, 18.11.). „Niemand ist immun gegen eine Verfälschung der Erinnerung“, schließt Pathitis.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.11.2013)

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