Lebenswelt ist wichtiger als Literaturgeschichte

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Mitgliedern von Lesegemeinschaften geht es nicht allein um Texte und Sprache, sondern auch um soziale Erfahrungen und den Austausch mit anderen, zeigt eine Studie. Vor allem Frauen treffen sich in diesen Zirkeln.

Nobelpreisgekrönte Literatur oder eher etwas Unterhaltsames? Diese Frage stellt sich Menschen, die Lektüre für Lesegemeinschaften auswählen. Germanistinnen der Universität Klagenfurt haben in einem vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekt untersucht, welche Kriterien dabei zugrunde liegen und welche Muster sich in den Gruppendiskussionen zeigen. Damit beschritten sie wissenschaftliches Neuland: Während sich Forscher im angelsächsischen Raum seit Langem mit Buchklubs beschäftigen, wurden die deutschsprachigen bisher kaum erforscht. Bei einer Tagung in Klagenfurt wurden diese Woche Forschungsergebnisse über die Literaturrezeption in Lesegruppen präsentiert.

Forschung in der Lesegruppe

Methodisch bot sich neben einem Fragebogen die Analyse verschiedener Sitzungen dreier Lesegemeinschaften in Kärnten und Wien an. Dabei gingen Doris Moser, Gerda E. Moser, Katharina Perschak und Claudia Dürr induktiv vor: Die Kategorien für die Analyse ergaben sich aus den Gesprächsverläufen der Gruppe. Dazu zählte etwa auch die Bedeutung des Klappentextes und der Informationen über den Autor oder Bezüge zu Verfilmungen oder anderen Büchern. Der Text selbst, sein Thema, seine Figuren und Botschaften oder dessen sprachliche Schönheit, bildete eine weitere Kategorie.

Außerdem zeigte sich in einer weiteren Kategorie, wie Leser mit den Büchern umgingen, welche Schwierigkeiten, Hindernisse oder Spannungsmomente auftraten. Hier wurde auch thematisiert, inwieweit Autorenpreise als gerechtfertigt empfunden wurden. Die Kategorie „Umfeld“ wiederum fasste zusammen, inwieweit das Gruppengespräch vom Thema abschweifte und sachfremde Fragen zur Sprache kamen. Unter „Kontext“ fassten die Forscherinnen zusammen, welche an den Text anschließbaren Alltagserfahrungen der Leser für die Diskussionen eine Rolle spielten. Dazu gehören etwa moralische Fragen wie die Flüchtlings- oder Umweltschutzpolitik.

Gebildet, hoher sozialer Status

Die Forscherinnen stellten in den drei untersuchten Gruppen deutliche Unterschiede fest: „Eine Gruppe war stark lebensweltlich, also vom Alltag ihrer Mitglieder geprägt, eine andere diskutierte nach dem Modell des ,Literarischen Quartetts‘, die dritte suchte die soziale Begegnung. Gemeinsam ist allen, dass ihnen lebensweltliche Bezüge meist wichtiger als Literaturgeschichte, Arbeit am Text und Sprache sind“, fasst Gerda E. Moser zusammen.

Im Unterschied zu Literaturforen im Internet, die sich stärker auf die Texte konzentrieren, wird in Präsenzgruppen häufig auch über den Text hinausgehend über Persönliches diskutiert.

In den untersuchten Gruppen trafen sich fast ausschließlich Frauen, die jüngste war 36 Jahre alt, die älteste Mitte Siebzig. Der Bildungsstand und der soziale Status aller war hoch. Die persönliche Situation und der berufliche Hintergrund der Teilnehmer prägten die Diskussionen. So fiel teilweise eine interne Hierarchie auf, die sich auf die Auswahl der Bücher und eine gewisse Dominanz im Gespräch bezog. Häufig entschieden persönliche Empfehlungen und Preise über die Auswahl. Gelesen und diskutiert wurden sowohl Werke von Nobelpreisträgern wie Elfriede Jelinek und Patrick Modiano als auch Belletristik von Eric Emanuel Schmitt und Joachim Meyerhoff.

Zudem ergab die Untersuchung, dass es den Leserinnen weniger um die Identifikation mit den Figuren ging. Diese dienten vielmehr dazu, die eigene Identität zu stärken, indem man die Auseinandersetzung mit den Figuren suchte und sich gegebenenfalls von ihnen abgrenzte, erklärt Gerda Moser. Auf diese Weise könne in den Lesegemeinschaften allerdings auch Erkenntnis und Wissen gewonnen werden, die wiederum eigener Alltagsbewältigung zugute kommen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.03.2017)

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