Wie der Schnabel wächst

„Grob monströs“ wurde ihr Schnabel genannt. Er dient Tukanen nicht nur zum Fressen, er hat noch eine Funktion, strahlt Wärme ab.
„Grob monströs“ wurde ihr Schnabel genannt. Er dient Tukanen nicht nur zum Fressen, er hat noch eine Funktion, strahlt Wärme ab.(c) REUTERS (Victor Fraile)
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Dass es Evolution gibt, sah Darwin an Vögeln. Wie sie läuft, graduell oder in Sprüngen, und wie frei sie ist in der Wahl der Formen, zeigt sich auch dort.

Der wunderlichste aller Vögel ist der, dessen Zungen römische Kaiser zur Klimax ihrer Gelage weit herschaffen ließen, Evolutionsbiologe Stephen Gould hat daran erinnert – in „The Flamingo's Smile“ – und daran, dass das wirklich Spannende die Behausung der Zunge ist, der Schnabel: Mit dem filtrieren diese Vögel, sie holen Wasser ins Maul und pressen es durch Lamellen hinaus, so wie Bartenwale es tun. Aber deren Maul ist im Grunde gebaut wie das anderer Wale auch, bei Flamingos ist alles umgekehrt: Sie ziehen die Schnäbel zwischen den Beinen durchs Wasser, nach hinten, da steht die Welt Kopf: Der obere Schnabel ist unten, der untere oben. Dafür mussten die Rollen getauscht werden: Für gewöhnlich ist der untere Schnabel der frei bewegliche, bei Flamingos wurde der obere dazu.

Wie diese Laune der Evolution gelingen konnte, ist nicht recht klar. Aber Flamingos passen schon auch ins klassische Bild: Halten kann sich, wer mit Veränderungen des Phänotyps eine Nische erschließt, und sei sie so extrem wie die der Seen, in denen Flamingos waten, Lake Natron etwa in Tansania, er hat einen pH von 10,5. Auch daran kann man sich anpassen, und Anpassung ist der Schlüssel, man weiß es seit Darwin, man weiß es von Schnäbeln.

Aber nicht von denen von Finken: „Meine Aufmerksamkeit wurde das erste Mal geweckt, als ich die verschiedenen Exemplare der Spottdrosseln verglich“, notierte der Reisende auf den Galapagos, er fand auf jeder Insel eine „andere Form des Schnabels“, sie hatte sich offenbar nach dem jeweiligen Nahrungsangebot entwickelt, seit ein paar Vögel aus Chile eingeflogen waren.

Auf Finken achtete Darwin kaum, er erwähnt sie in „On the Origin of Species“ auch nur am Rand. Ins Zentrum rückten sie erst 1947, da gab ihnen der Ornithologe David Lack den Ehrennamen „Darwin-Finken“, er konnte zeigen, was Darwin an Drosseln nur vermutet hatte: Dass alle 14 Arten von einer einzigen stammten. Und dass die sich nach ihrem Eintreffen rasch auf Futterquellen spezialisiert – von Früchten über Kaktusnektar bis zu Leguanblut – und in Arten aufgespalten hatte.

War das ein Sonderfall der Evolution, oder läuft sie generell so? Darüber herrscht weniger Einigkeit: Darwin sah eine graduelle Entwicklung, Gould hingegen zog aus Details wie den Flamingos einen anderen Schluss, er vermutete ein Auf und Ab zwischen Phasen des Stillstands („stasis“) und explosiven Schüben: Diese Hypothese des „punctuated equilibrium“ überschneidet sich mit anderen, der von der „quantum evolution“ und der von der „adaptive radiation“, die Vielfalt dann und dort kommen sieht, wo sich Lebensräume auftun. Etwa wenn Land aus dem Meer steigt wie die Galapagos, oder wenn die ganze Erde sich leert, wie vor 65 Millionen Jahren von den Dinos.

Alle gingen nicht, auch die Vögel waren Saurier bzw. sind ihre Erben, man vermutet es schon lang, und Bhart-Anjan Bhullar (Chicago) konnte es 2015 mit den alchemistisch anmutenden Mitteln der Molekularbiologie zeigen: Er stellte bei Hühnern zentrale Gene der Schnabelbildung still, daraufhin wuchsen den Küken Schnauzen, die stark an die von Velociraptor erinnern (Evolution 7, S. 1665).


Frühe Explosion der Formen. Dieser Vogelahn ging im Massensterben unter, seine Erben mit den Schnäbeln hielten stand. Wann kamen ihre 10.000 Arten? Christopher Cooney (Sheffield) hat in der bisher breitesten Analyse versucht, die Geschichte aus den Genen von heutigen 2000 Arten zu lesen: Demnach haben sich die Vögel rasch differenziert (und später nur mit Feinarbeiten moduliert), und zwar in adaptiver Radiation, als die Saurier Platz gemacht hatten (Nature, 1. 2.). So steht es im Titel. Im Text steht es anders: Die Explosion begann, als noch keine Plätze frei waren, sondern die Saurier florierten, vor 80 Millionen Jahren.

Wie immer das zugegangen sein mag, heute sind 10.000 Arten da, jede hat ihren eigenen Schnabel. Könnte es noch viel mehr geben? Grenzenlos ist die Bandbreite nicht, sie hat innere Beschränkungen durch Mathematik und Physik, und von äußeren Bedingungen hängt sie schon auch ab. Etwa davon, ob ein Tier im klirrenden Norden lebt oder im brütenden Süden: 1877 postulierte Joel Allen, dass die Extremitäten in kalten Regionen kleiner sind, um Wärmeverluste zu minimieren.

Das ging als „Allen's Rule“ in die Bücher ein, bestätigt werden konnte es erst 2010 von Glenn Tattersall (Ontario), an Vögeln, denen, deren Schnäbel vom Naturforscher Buffon „grob monströs“ genannt wurden: Tukanen. Die leben zwar alle in den Tropen, aber in unterschiedlichen Seehöhen, und bei denen weiter oben sind die Schnäbel kleiner (American Naturalist August 2015). Groß sind sie doch, das hat einen Grund, sie dienen, wie die Ohren der Elefanten, dem Abstrahlen von Wärme, auch das hat Tattersall gezeigt (Science 325, S. 468). So limitiert die Funktion die Form, sie tut es auch augenscheinlicher: Ein hämmernder Specht braucht Stabilität, ein Raubvogel einen Haken zum Zereißen der Beute.

Dieser Schnabel kann sich nicht frei entwickeln – bei Sperbern ist er anders als bei Adlern –, seine Form hängt an der Größe des Schädels, Jen Bright (Bristol) ist es aufgefallen (Pnas 113, S. 5352). Das führt zu noch einer Grundfrage der Evolution: Vor 100 Jahren publizierte der Mathematiker D'Arcy Wentworth Thompson „On Growth and Form“. Darin ging es nicht wie bei Darwin um die Entwicklung in der Zeit, sondern um die im Raum: nicht darum, wann und warum etwas kam, sondern, was überhaupt kommen konnte.

Das sah Thompson von den Proportionen abhängig, denen zwischen Körperteilen und denen in ihnen: Länge und Breite etwa stehen in fixen Verhältnissen, die von der Geometrie diktiert werden. Thompson demonstrierte es an vielen Lebewesen, nicht an Vögeln. Das hat Arhat Abzhanov (Harvard) nachgeholt, erst an Darwin-Finken (Pnas 107, S. 3356), dann an allen Singvögeln (Nature Communications 5:37000): Thompson hatte recht. Das heißt nicht, dass er auch mit seiner Schlussfolgerung recht hatte, derzufolge Darwin obsolet war, beide gehen gut zusammen: „Die Vögel haben aus dem mathematisch Möglichen alles herausgequetscht, was sie brauchten“, schließt Abzhanov.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.05.2017)

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