Wurden wir besser oder nur mehr?

Ist die Gewalt zurückgegangen, weil die Menschen vernünftiger geworden sind?
Ist die Gewalt zurückgegangen, weil die Menschen vernünftiger geworden sind?APA/AFP/JAAFAR ASHTIYEH
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Neue Zweifel an Steven Pinkers Sicht des Weltlaufs, derzufolge die Gewalt stark zurückgegangen ist, weil die Menschen vernünftiger geworden sind.

Als die Siedlung Schletz bei Asparn an der Zaya vor 5300 Jahren überfallen wurde, blieb fast niemand am Leben, nur die gebärfähigen Frauen wurden mitgenommen. Ähnliche Massaker gab es anderswo in Europa auch, und schon etwas früher wurde im Zweistromland die erste bekannte Schlacht geschlagen, um die Stadt Hamoukar. Nach deren Erstürmung ist es wohl so zugegangen, wie es die Bibel von Jericho sagt: Kaum einer entrann.

Das sieht bei den heutigen Gemetzeln anders aus: „Hätten die Kriege des 20. Jahrhunderts den gleichen Anteil der Bevölkerung getötet, wie das in Kriegen zwischen Stämmen üblich war, hätten sie nicht 100 Millionen Tote gefordert, sondern zwei Milliarden.“ So bilanziert Steven Pinker, Psychologe in Harvard, seit 2007 wieder und wieder, er ist sich bewusst, dass er damit „den Eindruck erweckt, es sei irgendwo zwischen Halluzination und Obszönität angesiedelt“. Aber er stützt sich auf die Statistik: Über die Jahrtausende sind die relativen Opferzahlen aller Formen von Gewalt – zwischen Gesellschaften wie in ihnen – zurückgegangen, die absoluten natürlich nicht.

Pinker schließt daraus, dass die Menschheit milder geworden ist und vernünftiger, und dass sie sich zudem mit Institutionen wie Zentralstaaten mit Gewaltmonopol gezähmt hat: „Wir leben heute wahrscheinlich im friedlichsten Moment der ganzen Zeit, den unsere Art auf der Erde verbracht hat. Irgendetwas müssen wir richtig gemacht haben“, weiß Pinker und vermutet, es sei die entwickelte „Vernunft, die uns erlaubt, die Welt zu verstehen, Ideen auszutauschen und soziale Vereinbarungen auszuhandeln“.

Gegen diese optimistische Deutung des Weltlaufs sind viele Einwände zusammengetragen worden, der jüngste stammt vom Anthropologen Rahul Oka (University of Notre Dame): Er bezweifelt nicht, dass Gewalt relativ zurückgegangen ist, aber er sieht keine Verbesserung der Menschen oder ihrer Organisationsformen am Werk, sondern lediglich eine der Größe bzw. Skalierung. Dabei argumentiert er in Analogie zur Biologie, in der solche Gesetze herrschen: Ein größerer Körper, etwa der eines Elefanten, hat einen relativ geringeren Stoffwechsel als ein kleinerer, etwa der eine Maus.

Größe wirkt, nicht irgendein Fortschritt

Unter dieser Perspektive hat Oka 430 militärische Konflikte von vor 2500 Jahren bis heute durchgemustert: Am Anfang, als die Gesellschaften klein waren, war der Anteil der Krieger hoch – um die 40 Prozent – und der Organisationsbedarf gering, es wurde einfach nach Kräften zugeschlagen. Das ging später nicht mehr, die Zahl der Krieger musste relativ sinken, Oka rechnet es vor: „Für einen Staat mit zehn Millionen Bürgern ist es unmöglich, eine Armee von 40 Prozent bzw. mit vier Millionen Soldaten zu unterhalten.“ Also traten auf den Schlachtfeldern relativ weniger Kämpfer gegeneinander an, also blieben dort auch relativ weniger Opfer aus der Gesamtbevölkerung, es liegt einzig an der Skalierung, nicht an irgendeinem Fortschritt (Pnas E11101).

Pinker zeigt sich unbeeindruckt (Sciencenow, 15. 12.), denn Oka nimmt nur die Opfer auf den Schlachtfeldern in den Blick, nicht die unter der Zivilbevölkerung, und schon gar nicht die der innergesellschaftlichen Gewalt, deren Zahl noch imposanter zurückgegangen ist: Durch Mord und Totschlag kamen im 14. Jahrhundert 40 von 100.000 Menschen ums Leben, im 20. nur 1,4: „Die Studie Okas erklärt das nicht. Sie erklärt gar nichts.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.12.2017)

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