Von Johann Adler bis Ernst Alexander Zwilling

Ein umfangreiches Handbuch gibt einen Überblick über Autoren und Autorinnen sowie ihre Position innerhalb des literarischen Systems während des Nationalsozialismus. Jetzt ist der Wiener Band erschienen.

Wie stellte sich das literarische Feld des deutschen Sprachraums zur Zeit des Nationalsozialismus (NS) dar? Die Antwort darauf will eine mehrbändige Reihe von Karin Gradwohl-Schlacher und Uwe Baur von der Forschungsstelle Österreichische Literatur im Nationalsozialismus am Universitätsarchiv Graz geben. Die beiden Literaturwissenschaftler haben dazu einen neuen Typus von Handbuch entwickelt: eine verwobene Kombination von Personen- und Institutionenlexikon.

Nach Bänden, die Kärnten, Oberösterreich und die Steiermark im Fokus haben, ist jetzt der vierte Band von „Literatur in Österreich 1938–1945“ zu Wien erschienen. Das lexikalische Nachschlagewerk setzt die systematische und flächendeckende Dokumentation des literarischen Lebens während des Nationalsozialismus fort. Im Sinn literaturwissenschaftlicher Grundlagenforschung schaut Herausgeberin und Verfasserin des Einzelbandes Gradwohl-Schlacher ohne Einschränkung auf Autoren und Autorinnen sowie deren Werke genauso wie auf literarische Vereinigungen, aber auch auf kulturpolitische Lenkungsinstanzen wie Zensur und Förderung. Dadurch finden im kulturellen Gedächtnis verankerte prominente und skandalisierte Einzelfälle eine umfassende Kontextualisierung.

Leistungen und Leerstellen

Statt Kanonisierung durch vermeintlich objektive inhaltliche Merkmale stehen rein formale Kriterien im Vordergrund. Das Handbuch bevorzugt also weder damals wichtige Institutionen, noch grenzt es Trivialliteratur, Kinderliteratur oder sogenannte Volksliteratur aus. Gleichzeitig sind in dem fast 1000-seitigen Wälzer auch Propagandaliteratur und esoterische Schriften integriert. Und so reihen sich bekannte Namen wie Heimito von Doderer („Die Strudlhofstiege“) ohne Hervorhebung alphabetisch sortiert zwischen heute unbekannte Akteure wie den Dramatiker Emerich Doczkalik und die freie Schriftstellerin und Lyrikerin Maria Anna Dopler ein. Die jeweiligen biografischen Informationen fallen naturgemäß unterschiedlich umfassend aus.

Die Auflistung von Preisen und Ehrungen auch von vor 1938 sowie der Einbezug von Entnazifizierungsakten als Blick in die Nachkriegszeit machen Kontinuitäten und Brüche sichtbar. Dadurch illustrieren die Texte gut, wie integriert einzelne Personen in die unterschiedlichen Systeme von der Monarchie bis zur Republik nach dem Zweiten Weltkrieg waren.

Eine methodisch nachvollziehbare, aber auffällige Leerstelle ist das Fehlen des Exils. Die Herausgeberin begründet dies damit, dass dessen Autorinnen und Autoren durch die erzwungene Ausreise nicht offiziell in das literarische Leben des Dritten Reiches eingebunden waren. Auch einem weiteren Aspekt kann das Handbuch nicht ausreichend Rechnung tragen: „Innere Emigration und der Widerstand sind oft schwer zu eruieren und entziehen sich meist dem systematischen Zugriff“, so Gradwohl-Schlacher. „Die totalitären Zwänge begünstigen die Spaltung von öffentlichem und privatem Verhalten, von Integration und Abweichung, die zumeist nur über private Dokumente erschließbar ist.“

Hauptziel des Handbuchs ist es jedoch, trotz dieser Einschränkungen das Gesamtsystem vor Augen zu führen und eine wertneutrale Bestandsaufnahme vorzulegen. Gradwohl-Schlacher spricht von einer „wissenschaftlichen Grundmauer, von der aus Selektionen funktionell beschreibbar sind und Kanonisierungen transparent werden“. Tatsächlich ist das Werk eine umfassende Materialbasis für eine sachliche Auseinandersetzung mit dem brisanten Thema.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.07.2018)

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