Wie kann ein Forscher alle fünf Tage etwas publizieren?

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FILES-SWITZERLAND-SCIENCE-PHYSICS-PARTICLE-HIGGSAPA/AFP/RICHARD JUILLIART
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Die Vielzahl derer, die für eine Veröffentlichung zeichnen, gefährdet die Transparenz und Zurechnung der Verantwortlichkeit.

Es gibt Vielschreiber in der Unterhaltungsliteratur, Stephen King ist mit 85 Romanen und über 200 Kurzgeschichten notorisch, und es gibt Vielschreiber in der wissenschaftlichen Literatur, von denen stellen manche den Horrorspezialisten weit in den Schatten: Sie publizieren im Jahr über 72 Papers, jeden fünften Tag eines. Und von ihnen gibt es gar nicht so wenige, in den Jahren zwischen 2000 und 2016 waren es über 9000.

Ihre Namen hat John Ionannidis (Stanford) beim Durchforsten von Scopus gefunden, das ist ein Verzeichnis aller seriösen Journals – es gibt Zehntausende –, die „Raubjournals“, die mit „predatory publishing“ Geld machen und in den letzten Wochen unter heftige Kritik geraten sind, sind nicht dabei. Sondern nur die von Science und Nature bis hin in Verästelungen wie die Acta Crystallographica Section E oder die Proceedings of the Royal Society A und B.

Ionannidis selbst gehört zu den Vielschreibern, in seiner ertragreichsten Zeit brachte er es auf über 50 Publikationen pro Jahr, sie befassten sich meist mit dem Gesetz, das die Wissenschaften beherrscht – „publish or perish!“, man darf es mit „publizieren oder verrecke!“ übersetzen – und das die Wissenschaften oft untergräbt, mit Lug und Betrug, Plagiat und Selbstplagiat. Nun hat er also sich selbst und andere Vielschreiber ins Visier genommen und betonte eingangs, dass „er klar sein müsse: Wir haben keine Evidenz, dass diese Autoren irgendetwas Unanständiges tun“ (Nature 561, S. 167).

Aber die Forschung bzw. ihre Transparenz und die Zurechenbarkeit der Verantwortung leiden doch, wenn unter dem Titel einer Publikation über tausend Namen stehen. Das ist etwa in der Teilchenphysik Usus, etwa bei neuen Befunden von den Beschleunigern beim CERN: 86 Prozent aller Vielschreiber – 7888 der über 9000 – gehören in dieses Feld, Ionannidis hat es von der weiteren Analyse ausgeschlossen. Das tat er auch mit einer zweiten großen Gruppe: 909 der Autoren stammen aus China. Und in China werden Forscher, die eine Publikation in einem Journal unterbringen – vor allem in einem prestigereichen –, mit Geldsummen belohnt, die das normale Gehalt übertreffen: „Es ist nicht einfach ,publish or perish‘; es ist ,publish and flourish‘“, erklärt Ionannidis in einem Interview über seine Arbeit in Nature, das er Science gegeben hat.

System muss zeigen, wer was getan hat

So etwas zählt er nicht unter die Publikationen, in denen muss ein Projekt entworfen, durchgeführt und am Ende formuliert und abgesegnet werden. Es blieben 265 Autoren, überwiegend aus Medizin und Lebenswissenschaften, an der Spitze steht allerdings der Materialforscher Akihisha Inoue (Tohoku University), der zwölf Jahre lang alle fünf Tage publizierte. 69 andere Forscher folgten mit mindestens vier ertragreichen Jahren, die meisten in den USA – dahinter Deutschland und Japan –, die meisten, wenn sie Chefpositionen bzw. die Leitung größerer Forschungsgruppen hatten.

81, die anno 2016 so viel publiziert hatten, bat Ionannidis um Mail per Auskunft, 27 antworteten ausführlich, ihre Produktivität habe mit Liebe zur Forschung zu tun und als Preis wenige Stunden Schlaf am Tag. Verwerfliches findet Ionannidis, wie erwähnt, daran nichts, aber: „Es ist lächerlich, wenn etwa 524 Autoren aufgelistet sind. Haben die meisten davon ein Komma beigetragen oder einen Punkt? Wir brauchen ein System, das besser zeigt, wer was getan hat!“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.09.2018)

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