Die Mär von der sozialen Hängematte

Gesundheitsvorsorge und Pensionssicherheit sehen die Österreicher mehrheitlich als Aufgabe des Staates.
Gesundheitsvorsorge und Pensionssicherheit sehen die Österreicher mehrheitlich als Aufgabe des Staates.(c) Clemens Fabry
  • Drucken

Österreicher fordern vom Staat Gesundheitsversorgung, Pensionen, Sicherheit und zunehmend auch den Abbau von Lohnunterschieden. Das zeigt der Vergleich von Wertestudien.

Nationale Umfragen, die die Meinungen der Bevölkerung zu bestimmten Themen wie Arbeit, Familie oder Politik in regelmäßigen Abständen erheben, haben in anderen Staaten eine weit länger zurückreichende Tradition als hierzulande. In Österreich war 1986 die Premiere für eine solche Studie.

Nach zwei weiteren Erhebungen in den Jahren 1993 und 2003 kam es 2016 zur vierten repräsentativen Befragung von 2000 Personen. Zentrale Ergebnisse dieser sogenannten Surveys wurden jüngst unter dem Titel „Sozialstruktur und Wertewandel in Österreich“ – herausgegeben von Soziologen der Unis Graz, Linz und Wien – publiziert (Springer, 56,53 Euro). Sie ermöglichen somit erstmals einen Langzeitvergleich über drei Jahrzehnte.

Sicherheit ist Staatssache

Die Forschungsergebnisse zeichnen ein klares Bild der Meinung der Österreicher zum Wohlfahrtsstaat. Dieser ist seit den 1990er-Jahren immer wieder dem Vorwurf ausgesetzt, sich als „soziale Hängematte“ missbrauchen zu lassen. Die erhobenen Daten zeigen allerdings eine differenziertere Sicht der Bevölkerung. Der Linzer Soziologe Alfred Grausgruber, der für diese Untersuchungen verantwortlich ist, konfrontierte die Befragten mit neun zentralen staatlichen Aufgaben zur sozialen Absicherung oder zur Verminderung von Ungleichheit. Dazu gehören etwa die Sicherung der Gesundheitsversorgung, der Arbeitsplätze und des kostenlosen Hochschulzugangs sowie der Abbau von Lohnunterschieden.

Unter dem Strich gehe es stets um die Frage, wer die Verantwortung für die verschiedenen Aufgabenbereiche tragen soll: der Staat bzw. eine öffentliche Einrichtung oder Private, wie etwa in den USA private Gesundheits- oder Pensionsversicherungen. „Bei dieser Frage sind die Österreicher und Österreicherinnen eindeutig der Meinung, staatliche Institutionen sollten dafür verantwortlich sein“, so Grausgruber. Zwei der abgefragten Aufgabenbereiche sahen die Befragten besonders ausgeprägt in der Verantwortung des Staats – auch im Langzeitvergleich: Die gesundheitliche Versorgung ist heute für fast drei Viertel der Befragten in jedem Fall Staatsaufgabe, die Absicherung des Lebensstandards von Pensionisten für knapp 64 Prozent.

Als zentrale Aufgabe wird inzwischen auch die Versorgung mit ausreichend Sicherheitskräften gesehen, die 2003 (u. a. als Folge der Terroranschläge am 11. September 2011 in den USA) erstmals in den Befragungskatalog aufgenommen und 2016 von knapp 70 Prozent der Bevölkerung staatlicher Verantwortung zugeschrieben wurde.

Wer mehr hat, verlangt mehr

Verändert hat sich der Zusammenhang zwischen dem Einkommen der Befragten und ihren Forderungen an den Staat. „Während in den früheren Befragungen – etwa bei den Forderungen zu den Verantwortungsbereichen Sicherheit und Gleichheit – das Haushaltseinkommen eine Rolle spielte, ist heute kein signifikanter Zusammenhang mehr herzustellen“, sagt Grausgruber. Interessanterweise tendierten Befragte mit subjektiv gut empfundener Finanzlage eher dazu, vom Staat ein Mehr an Verantwortung zu fordern, als Befragte, deren Situation finanziell prekär sei.

Erstaunlich ist auch der Einfluss eines hierarchischen Gesellschaftsbildes und rigider Gesetzesgläubigkeit, den die Studie ergab. Wer – unabhängig davon, ob ein eigener Wunsch danach besteht – eine ausgeprägte Hierarchie im Sinn von „oben wird kommandiert, unten gehorcht“ wahrnimmt und die strikte Einhaltung des Gesetzes fordert, tendiert laut Grausgruber eher dazu, eine starke sozialpolitische Verantwortlichkeit des Staates für soziale Sicherheit und Gleichheit zu fordern.

Vermehrt gefordert werden auch staatliche Maßnahmen zum Abbau von Einkommensunterschieden, die heute für nahezu die Hälfte der Befragten als unabdingbare Aufgabe des Staates gelten. Der Wunsch nach „dem Sprung in die soziale Hängematte“ sei allerdings weder aus diesem noch aus den anderen vielfältigen Ergebnissen abzuleiten, meint Grausgruber.

IN ZAHLEN

73Prozent der Österreicher finden, dass der Staat in jedem Fall für die gesundheitliche Versorgung zuständig ist. Dreißig Jahre davor
waren es 66 Prozent.

64
Prozent finden, dass der Staat einen angemessenen Lebensstandard für Pensionisten sichern muss – genauso viele wie 1986. Ein weiterer konstant dem Staat zugeschriebener Aufgabenbereich ist die öffentliche Sicherheit (69 Prozent).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.10.2018)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.