„Stille Nacht“ mit vielen Fragezeichen

Aus dem Salzburgerischen in die ganze Welt. Für Thomas Hochradner, Wissenschaftler im Bereich historische Musik, hat die globale Verbreitung von „Stille Nacht! Heilige Nacht!“ einen einfachen Grund: „Das Lied war immer zur rechten Zeit am rechten Ort.“
Aus dem Salzburgerischen in die ganze Welt. Für Thomas Hochradner, Wissenschaftler im Bereich historische Musik, hat die globale Verbreitung von „Stille Nacht! Heilige Nacht!“ einen einfachen Grund: „Das Lied war immer zur rechten Zeit am rechten Ort.“(c) imago stock&people (imago stock&people)
  • Drucken

Vor 200 Jahren wurde das berühmte Weihnachtslied in Oberndorf bei Salzburg uraufgeführt – ein Werk, das auch die Forschung nach wie vor beschäftigt.

Tag und Ort der Uraufführung sind bekannt: Am 24. Dezember 1818 erklang in Oberndorf bei Salzburg erstmals das Weihnachtslied „Stille Nacht! Heilige Nacht!“. Pfarrer Joseph Mohr hatte wenige Stunden zuvor dem Lehrer und Organisten Franz Xaver Gruber ein Gedicht übergeben, das dieser für den Weihnachtsabend vertonen sollte. So viel zu den Fakten, die Gruber in der „Authentischen Veranlassung“, einem von ihm verfassten Bericht an die Königliche Hofmusikkapelle in Berlin, die Michael Haydn als Urheber des Liedes vermutet hatte, niedergeschrieben hat.

Mythen um eine kaputte Orgel

Um die Entstehungsgeschichte des Liedes ranken sich viele Mythen. Vieles davon ist grober Unsinn, wie Thomas Hochradner erklärt. Der Musikwissenschaftler beschäftigt sich seit bald 30 Jahren mit dem Weihnachtslied und seiner Historie. Eine der Geschichten, die sich hartnäckig halten, ist jene von der kaputten Orgel in der Oberndorfer Kirche, deretwegen nach musikalischen Alternativen für die Mette gesucht wurde. Dafür gebe es überhaupt keine Belege, betont Hochradner. Und die Legende, dass eine Maus den Blasebalg der Orgel durchgebissen habe, sei geradezu unsinnig.

Aber abseits solcher mehr oder weniger gut erfundenen Geschichten gibt es noch viele Rätsel um das berühmte Weihnachtslied. So weiß man bis heute nicht, in welcher Fassung „Stille Nacht!“ am 24. Dezember 1818 wirklich gesungen wurde. Auch die Frage, ob das Lied vor oder nach der Weihnachtsmette erstmals erklang, ist ungeklärt. „Während der Mette kann es nicht gewesen sein, weil Mohr zelebrieren musste und Gruber an der Orgel saß“, stellt Hochradner klar. Und auch über die exakte Aufführungsstelle kann man nur rätseln. Gruber schreibt zwar in seinen Erinnerungen von der St. Nicola-Kirche in Oberndorf, aber ob das Lied tatsächlich vor der Krippe uraufgeführt wurde, weiß man nicht. Ein weiteres Fragezeichen: Gab es einen Chor oder nicht? „Es wäre schon spannend, wenn man das alles wüsste“, meint der Wissenschaftler. Doch er glaubt, dass sich das kaum mehr wird klären lassen, weil es keine Aufzeichnungen darüber gibt.

Aber wer weiß, manchmal führt ja der Zufall Regie. Wie im Jahr 1995, als auf einem Dachboden überraschend eine von Mohr um das Jahr 1820 niedergeschriebene Fassung des Liedes auftauchte. Sie ist für zwei Singstimmen und Gitarrenbegleitung verfasst. Zuvor hatte es nur jüngere, von Gruber notierte Fassungen – wie die 1836 entstandene „Halleiner Fassung“ für zwei Singstimmen, Chor und großes Orchester – gegeben. Das Autograf von Mohr, also die eigenhändige Niederschrift, dürfte der 1818 aufgeführten Urfassung wohl am nächsten kommen, vermutet der Wissenschaftler. Unterschiede in der Melodie gibt es: Mohr hatte in der ersten Takthälfte eine musikalische Punktierung gesetzt, die bei Gruber erst in der zweiten Takthälfte vorkommt. „Die Gruber-Version hat sich durchgesetzt“, sagt Hochradner. Die Stille-Nacht-Gesellschaft hatte ihn beauftragt, ein Werkverzeichnis von Franz Xaver Gruber zu erstellen. Hochradner übernahm die Aufgabe, die Quellen zusammenzutragen. „Es war eine Suche im Heuhaufen“, erzählt er über die Archivarbeit. Einzelne Werke waren in Privatbesitz, andere weit verstreut, vieles lag im Keltenmuseum in Hallein, wo Gruber von 1835 bis zu seinem Tod im Jahr 1863 als Chorregent, Organist und Stiftungsverwalter tätig war.

US-Sänger hievte Lied in Charts

Was aber machte das Lied so populär? „Es ist eine einfache Komposition, eine musikalische Einladung zum Mitsingen. Durch Wiederholungen ist die Melodie leicht zu merken, und sie passt im Duktus zum Weihnachtsgeschehen“, nennt Hochradner nur einige Aspekte, die zur schnellen Verbreitung beitrugen.

„Stille Nacht!“ soll in über 300 Sprachen und Dialekte übersetzt sein. Aber: „Eine Übersetzung sagt nichts über die Rezeption aus.“ Ein bedeutenderes Indiz für die weltweite Verbreitung sei die Tatsache, dass Bing Crosbys „Silent Night“ stabil auf Platz drei der meistverkauften Singles liege.

Man weiß zwar nicht sicher, ob „Stille Nacht!“ ein Jahr nach der Uraufführung in Oberndorf noch einmal gesungen wurde. Aber ab den 1830er-Jahren tauchte es in zahlreichen Liederhandschriften auf, ab 1866 stand es im Salzburger Gesangsbuch. „Ab diesem Zeitpunkt darf man für viele Orte von einer jährlichen Aufführung ausgehen“, sagt Hochradner. Im Jahr 1831 sangen es die Geschwister Strasser aus dem Zillertal das erste Mal in Leipzig, die Rainer-Sänger trugen es wohl 1839 in die USA. Für den Wissenschaftler hat diese globale Verbreitung einen einfachen Grund: „Das Lied war immer zur rechten Zeit am rechten Ort.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.12.2018)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.