Was die Knochen zu erzählen haben

An der Österreichischen Akademie der Wissenschaften sammelt Lukas Waltenberger eine besondere Expertise: Aus Knochen erfährt er Details zur Todesursache und unterstützt so die Aufarbeitung von Konflikten.

Ein Anruf vom Bundeskriminalamt ist für Lukas Waltenberger keine Seltenheit. Wenn die Forensiker Zweifel hegen, wie einer ihrer Patienten zu Tode gekommen ist, melden sie sich zuweilen bei dem Doktoranden. Der Anthropologe hat sich schon in jungen Jahren eine beeindruckende Fähigkeit angeeignet: Er liest aus Knochen. Die anthropologischen Daten – Alter, Geschlecht, Krankheiten – erkennt er meist auf den ersten Blick. Sein Spezialgebiet sind Verletzungen am Knochen, sogenannte Cut Marks, die Aufschluss über einen gewaltsamen Tod geben können.

Waltenberger, der sein Doktorat am Institut für Orientalische und Europäische Archäologie der Akademie der Wissenschaften (ÖAW) absolviert, war schon als Kind fasziniert von Skeletten: „Ich stand damals vor Museumsvitrinen und habe mich gefragt, wie die Wissenschaft Aussagen über die Lebensumstände, das Aussehen oder die Todesursache treffen kann. Das wollte ich auch können“, so Waltenberger. Für seine Promotion betrachtet er gemeinsam mit Forschern der Medizinischen Universität Wien sowie der Universität Wien ein physiologisches Kuriosum: knöcherne Geburtsmerkmale, die am Becken von manchen Frauen auftauchen. Die genaue Ursache dieser Anomalien ist bisher kaum erforscht worden.

Arbeit in Konfliktregionen

Die Osteologie, also die Knochenlehre, lernte Waltenberger über die Biologie und Anthropologie kennen. Ein Master in England führte ihn schließlich zur Forensik. Er ist damit einer der wenigen europäischen Forscher auf dem Gebiet der forensischen Anthropologie, wie er sagt. Die wissenschaftliche Community in Europa sei klein, seine Expertise werde daher oft gezielt nachgefragt. Auch wenn die Beschäftigung mit gewaltvollen Toden für den Wissenschaftler eine emotionale Belastung bedeutet, ist die Forensik sein Traumberuf. Und für ihn oft spannender als die Archäologie: „Sind bereits Details über den verstorbenen Menschen bekannt, kann ich Hypothesen, die sich aus der Untersuchung der Knochen ergeben, überprüfen. Archäologen dagegen arbeiten mit vielen Unbekannten.“

Trotzdem ist die Zusammenarbeit mit der Archäologie für Waltenberger eine Bereicherung. Als junger Wissenschaftler verbrachte er vier Monate in einem interdisziplinären Team auf Zypern. Viele Opfer des Zypern-Konflikts, ermordet oder in bewaffneten Auseinandersetzungen gefallen, lägen noch heute in Massengräbern. Bei der Identifizierung der Gebeine und der Feststellung der oft tragischen Todesursachen half der Forensiker den Kollegen auf beiden Seiten der Insel. „Das war sicher einer der schwierigsten Einsätze, die ich bisher unterstützen durfte. Anfangs standen wir vor einem Sack voller Knochen, teilweise mit Gewebe- oder Kleidungsresten behangen“, erzählt Waltenberger. Bevor die Gebeine mittels DNA-Analyse den suchenden Familien zugeordnet wurden, nahm sie der Forscher genauer unter die Lupe. Neben Alter und Geschlecht untersuchte er, ob Knochenverletzungen in Kampfhandlungen oder bei Unfällen zustande kamen.

Willen zur Aufarbeitung

Neben Medizinern und Archäologen arbeitet Waltenberger auch mit Botanikern und Insektenforschern zusammen, um die Umwelteinflüsse auf einen zerfallenden Organismus besser zu verstehen. Ein bisschen von allem müsse auch er können, denn von der Forensik allein, so der Wissenschaftler, ließe sich im friedlichen Europa nicht leben. Das könnte sich jedoch ändern, denn Aufarbeitungsprojekte wie in Zypern häufen sich. Auch an Schauplätzen des spanischen Bürgerkriegs wird jetzt gegraben. Waltenberger: „In Österreich gäbe es ebenfalls noch Massengräber aus dem Zweiten Weltkrieg zu untersuchen, doch da braucht es zunächst den Willen der Bevölkerung und der Politik.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.07.2019)

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