Papyrussammlung: Die Schatzsucher vom Heldenplatz

Papyrussammlung Schatzsucher Heldenplatz
Papyrussammlung Schatzsucher Heldenplatz(c) Clemens Fabry
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Die Österreichische Nationalbibliothek beherbergt eine der größten Papyrussammlungen der Welt. In den 180.000 Stücken an "antikem Altpapier" werden immer wieder Sensationsfunde gemacht.

Auf den ersten Blick ist die Nationalbibliothek in Wien eine Bibliothek wie jede andere. Tausende von Büchern, weite Lesesäle voller Menschen. Am Papyrusmuseum, gleich nach dem Haupteingang links, huschen viele im Stress vorbei. Dabei ist die 1883 gegründete „Sammlung Erzherzog Rainer“ wohl der spannendste Haufen antiken Altpapiers, den es gibt: 180.000 Papyri aus Ägypten, aus der Zeit von 1500 vor bis 1200 nach Christus, ein gewaltiger Fundus von unschätzbarem Wert. Die immense Vielfalt spiegelt sich auch in den Sprachen wieder: Neben Altägyptisch (Hieroglyphen) finden sich Texte in Hieratisch, Demotisch, Koptisch, Griechisch, Latein, Hebräisch, Syrisch, Aramäisch, Pehlevi (Mittelpersisch) und Arabisch.

In den Räumen hinter dem Museum – in denen nur 200 ausgewählte Stücke zu sehen sind – arbeiten Papyrologen aus aller Welt. Soeben hat der Italiener Federico Morelli, Mitarbeiter im Rahmen eines Projekts des Wissenschaftsfonds (FWF), Ergebnisse seiner Arbeit an einem spannenden Archiv veröffentlicht, das jetzt auch online zugänglich ist: 250 Texte in griechischer und koptischer Sprache geben Zeugnis einer echten Umbruchszeit, als die Araber das Land am Nil eroberten – um bis heute zu bleiben. Wie ging es den Menschen in den Jahren um 640 nach Christus? Herrschte Chaos? Wie gingen die arabischen Eroberer vor? Bisher gaben nur Berichte antiker Zeitgenossen und Historiker darüber Auskunft. Jetzt gibt es auch dokumentarische Quellen. Und die sorgen für Aufsehen.

„Morelli wird den Rest seines Lebens arbeiten können oder müssen, um dieses Archiv wirklich aufzuarbeiten“, schmunzelt Bernhard Palme, Sammlungsleiter und seit dem Jahr 2004 Österreichs erster Professor für Papyrologie an der Universität Wien. Zu den bereits identifizierten Texten könnten weitere hinzukommen. Auch in anderen Sammlungen – etwa in Straßburg – wurden Texte gefunden, die zu dem Archiv gehören. Zeitstellung und Typ der Dokumente, deren Inhalt und die darin verwendeten Namen lassen das erkennen. Der Fundort war ursprünglich derselbe.

Im Gegensatz zur Siegergeschichte der Historiker erzählen die Papyri – meist im Sand entsorgte Rechnungen, Urkunden, Steuerbescheide oder Verträge – von der Alltagskultur einfacher Menschen. „Hier bekommen Bauern und Taglöhner, Handwerker, Soldaten oder Frauen eine Stimme“, sagt Palme. „Spröde Rechtsdokumente sind das nur auf den ersten Blick. Bei näherem Hinsehen zeigt sich, wie die Leute gedacht haben, welche Emotionen sie hatten, wie sie mit Verlusten umgingen, welche Ängste sie plagten.“ Die Texte des „Morelli-Archivs“ zeigen die Aufregung und Unsicherheit über die neuen Verhältnisse. Die Streitkräfte der muslimischen Araber besiegten die Heere des oströmischen Reiches der Byzantiner. In der Zeit danach vermieden die Eroberer Übergriffe auf die Zivilbevölkerung. Auch sonst folgten sie dem Beispiel ihrer Vorregenten, ließen ihren Untertanen viele Freiheiten und übernahmen bestehende Verwaltungsstrukturen. Die Beamten sprachen vorerst weiter Griechisch, die Bevölkerung blieb gleich, nennenswerte arabische Einwanderung setzte erst später ein.


Steuerbescheide für Ziegel. „Die Menschen haben diesen Umbruch nicht als großen, schnellen Akt empfunden. Historisch gesehen hat die Transformation hin zu neuen Strukturen Jahrhunderte gedauert.“ Auch die Religion wurde niemandem aufgezwungen. Erst später entstand ein faktischer Druck durch Steuerbefreiungen für Muslime.

Weiters fand Morelli eine Steuerrolle mit Aufzeichnungen über die Lieferung von Ziegeln. Die Dörfer der ganzen Provinz mussten dazu beitragen. Insgesamt ergab sich eine gewaltige Menge, was nur einen Schluss zulässt: Das Material muss zum Ausbau der neuen Hauptstadt Kairo gedient haben, was auch mit anderen Texten übereinstimmt, die die Anwerbung von Arbeitskräften dokumentieren. Dass Papyri einem konkreten Ereignis zugeordnet werden können, ist sonst eher die Ausnahme.

Mit 1,2 Millionen Euro aus einem START-Preis des Wissenschaftsministeriums (BMWF) hat Palme die Papyrologie in Wien ab 1997 aufgebaut und eine Reihe von Experten angezogen. Mehr als 60.000 Papyri wurden gesichtet, hunderte Publikationen veröffentlicht. Im Jahr 2001 wurde die Sammlung zum Unesco-Weltdokumentenerbe erklärt. Nach Ablauf des sechsjährigen START-Projekts engagierten sich die Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und die Universität Wien – um das entstandene wissenschaftliche Niveau zu halten. Derzeit arbeiten drei fix beschäftigte Wissenschaftler am Heldenplatz. Eines von mehreren Projekten beschäftigt sich mit der weiteren Digitalisierung der Bestände. Auch wissenschaftlicher Nachwuchs wächst allmählich heran. Aber: Es dauert alles seine Zeit.

Palme selbst kann fünf lebende und zwei antike Sprachen lesen. Die mühsame Kleinarbeit, uralte Papierschnitzel zu übersetzen, richtig einzuordnen und mit bereits bestehenden Funden zu verknüpfen, wäre sonst kaum zu bewältigen. Weltweit sind nur, so schätzen Experten, etwa 30 Personen in der Lage, völlig selbstständig Texte zu editieren; dafür ist großes Hintergrundwissen verschiedener Disziplinen nötig. Auch die Kapazitäten der zwei Arbeitsplätze, an denen zwei Restauratorinnen mit Mikroskop, Pinzette und Chemikalien neue Papyri erst einmal reinigen und stabilisieren, sind begrenzt. Derweil schlummern im Keller noch tausende Texte in Kartons, fein säuberlich in Kuverts sortiert. In einem trockenen Klima wie damals in Ägypten harren sie ihrer Entdeckung. Nur Sonne bekommen die empfindlichen Stücke niemals zu Gesicht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.02.2011)

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