Training für unser Genussorgan, das Gehirn

Inhaltsstoffe von Lebensmitteln sind die materielle Basis für Genuss. Aber die Biochemie ist nicht alles: Auch soziale, kulturelle und kognitive Faktoren gehören dazu, um Essen so richtig genießen zu können.

Ob die Höhlenmenschen den Verzehr von rohem Fleisch so richtig genießen konnten, weiß man nicht. Sicher dürfte sein, dass der Mensch mit den Fortschritten bei der Zubereitung von Nahrung auch seinen Geschmack geschärft hat, wie der Wiener Wissenschaftstheoretiker Franz Wuketits in seinem lesenswerten Buch „Wie der Mensch wurde, was er isst“ (S. Hirzel Verlag, 20,40 Euro) ausführt. Lange Zeit habe der Mensch den Geschmack nur zur Unterscheidung von Essbarem und Ungenießbarem benötigt. „Durch das Kochen kam der Mensch auf den Geschmack“, so Wuketits.

Auch wenn Geschmacks- und Aromastoffe dabei eine wesentliche Rolle spielen, ist Genuss aber keine biochemisch isolierbare Eigenschaft von Lebensmitteln. Genuss beinhaltet auch viele andere Faktoren, aus denen erst unser eigentliches „Genussorgan“, das Gehirn, ein Erlebnis konstruiert. Das sind etwa physikalische Eigenschaften (Temperatur, Textur), akustische Reize (z.B. das Knistern von Chips), optische Eigenschaften (Farbe), kulturelle und soziale Prozesse (u.a. Tischgemeinschaften oder Rituale), aber auch kognitive Faktoren wie das Wissen um Lebensmittel, deren Eigenschaften, Herkunft, Geschichte und Zubereitungsarten. Viele Forscher verstehen „Genuss“ denn auch als Ergebnis soziokultureller Lern- und Deutungsprozesse – freilich auf einer biochemischen und physiologischen Grundlage.


Sinnestraining durch Experimente. Genuss und Genießenkönnen steigern nicht nur die Lebensqualität, sondern haben auch gravierende gesundheitliche Folgewirkungen. Laut dem „österreichischen Genussbarometer“ sind 17Prozent der Bevölkerung als „genussunfähig“ einzustufen – und diese Menschen neigen deutlich häufiger zu Übergewicht und Fettleibigkeit. Im Gegensatz dazu haben die ausgesprochene „Genießer“ – 15 Prozent der Österreicher – öfter Normalgewicht, sie fühlen sich auch gesünder und sind widerstandsfähiger gegen Stress.

Genusskompetenz ist also ein wichtiger Teil der Gesundheitsvorsorge. Und sie kann trainiert werden. Die Ernährungswissenschaftlerin Eva Derndorfer zeigt das in ihrem eben erschienenen Buch „Genuss. Über Epikur, Erdmandeln und Experimente beim Essen“ (Maudrich Verlag, 24 Euro): Neben viel Sach- und Fachinformation beschreibt sie 16 Experimente, mit denen Erwachsene und Kinder ihre Sinne trainieren können. Etwa wie man unterschiedlich gefärbten Wein wahrnimmt, wie die Temperatur das Geschmackserleben beeinflusst oder welche Konsequenzen die Form von Kaffeetassen hat.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.01.2012)

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