Blinde Flecken

„Multikonfessionelles Österreich“: Karl Vocelkas Überblickswerk zu den etablierten und neuen Religionsgemeinschaften in Österreich hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck – sehr bemüht, doch ungenau, veraltet und ideologisch gefärbt.

Die österreichische Religionslandschaft ist einer starken Dynamik unterworfen und aufgrund von Globalisierung und Migrationen vielfältiger geworden. Von daher greift man als Interessierter gerne zu einem aktuellen Überblickswerk zu den etablierten und neuen Religionsgemeinschaften in Österreich. Der Anspruch, eine solche wissenschaftliche Übersicht zur religiösen Diversität heute als einzelner Forscher vorzulegen, ist kühn. Er setzt voraus, dass man die spezielle historische, empirische und systematische Forschung zu den vielen einzelnen Religionen und ihren internen Richtungen beziehungweise Konfessionen bündelt und auf dem aktuellen Stand darstellt. Es erhebt sich die Frage, ob ein einzelner Gelehrter dieser Aufgabe gerecht werden kann – nach der Lektüre von Karl Vocelkas Buch wird man sie skeptisch beantworten.

Das Buch hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck: Die historischen Abschnitte, vor allem im Bereich der Geschichte des Christentums und der Orden, tragen die souveräne Handschrift des renommierten und erfahrenen Historikers. Man bewundert die Kärrnerarbeit, die der Autor bei diesem breiten Überblick, der auch einzelne neue religiöse Bewegungen einschließt, geleistet hat und schätzt das interessante Bildmaterial. Die knappen Überblicke zu den einzelnenbehandelten Religionen sind nützlich, vor allem in ihren historischen Teilen.

Wider den Katholizismus

Im Fall des Christentums werden nicht nur die etablierten Kirchen, sondern auch weitere, weniger bekannte Gemeinschaften wie Freikirchen vorgestellt. Auf der anderen Waagschale befinden sich die einführenden Darstellungen der verschiedenen Religionen,die in der Regel – vor allem bei den nichtchristlichen Traditionen – über ein Allgemeinwissen nicht hinausgehen, vielfach verkürzend sind und Fehler enthalten. In den meisten Abschnitten wird der Titel „Multikonfessionelles Österreich“ nicht wirklich eingelöst, weil die Religionen allgemein dargestellt werden, Informationen zur konkreten Situation der jeweiligen Religionsgemeinschaft in Österreich aber entweder ganz fehlen (bei den neuen religiösen Bewegungen) oder nur kurz gegeben werden. Hier wäre eigene empirische Forschung oder der Bezug auf bestehende empirische Forschungzu einzelnen Religionsgemeinschaften nötig gewesen. Kurz gesagt: Der Zwiespalt entsteht durch den Eindruck, dass einige Passagen durch den historischen Fachmann Vocelka verfasst wurden, andere durch den am religiösen Phänomen kritisch interessierten Laien Vocelka.

Was den Wert des Buches als aktuelles Nachschlagwerk schmälert, sind ungenaue und veraltete Angaben. Beispielsweise fehlen in der Auflistung der eingetragenen religiösen Bekenntnisgemeinschaften die „Elaia Christengemeinden“ (anerkannt 2006), dafür werden die Zeugen Jehovas dazugezählt, obwohl sie erst 2009 den Status einer gesetzlich anerkannten Religionsgemeinschaft erhielten. Beim Thema christliche Orden wird eine vollständige Aufzählung angekündigt – es fehlen aber so bedeutende Orden wie die Benediktiner, Pallotiner, Zisterzienser oder die Augustiner Chorherren. Bei der Darstellung des Islam in Österreich werden – ohne Jahresangabe – die Daten der Volkszählung von 2001 wiedergegeben, die neu vorliegenden statistischen Daten des Innenministeriums (2009) werden ignoriert.

Der Autor erwähnt als organisatorische Struktur die vier islamischen Religionsgemeinden in Österreich – er übersieht aber die wesentliche Änderung, dass seit der neuen Verfassung der islamischen Glaubensgemeinschaft und den Wahlen 2011 in jedem Bundesland (außer Burgenland) eine islamische Gemeinde existiert. Staikos wird als „derzeitiger“ griechisch-orthodoxer Metropolit angeführt, verstarb aber 2011.

Das sind nur einige Beispiele für die fehlende wissenschaftliche Genauigkeit und Sorgfalt, auf die man an vielen Stellen leider stößt. Bedauerlich sind auch andere inhaltliche Defizite wie die mit einer Viertelseite äußerst knappe Behandlung des Alevitentums – immerhin seit 2013 eine neue gesetzlich anerkannte Religionsgesellschaft, die den christlichen Kirchen gleichgestellt ist – oder das Fehlen einer eigenständigen Behandlung des Sikhismus, einer bedeutenden monotheistischen Tradition, die in Österreich bereits eigene Bauten (Gurdwaras) errichtet hat.

Das Phänomen der neuen Migrationskirchen von Christen aus Asien und Afrika in Österreich kommt nicht vor. Auch der fehlende Bezug auf die aktuelle religionswissenschaftliche Literatur und Forschungsdiskussion, wenn es etwa um die Frage der Definition von „Religion“ geht, ist unter den Defiziten zu nennen. Problematisch und tendenziös wird der Text, wenn es um die Darstellung der römisch-katholischen Kirche geht. Beispielsweise zitiert der Autor als Beleg für den Ausschließlichkeitsanspruch der katholischen Kirche ein Dokument des Zweiten Vatikanums, wo die Kirche sich selbst als „Antwort auf die ungelösten Rätsel des Daseins“ bezeichnen würde. Tatsächlich spricht das Konzil an dieser Stelle aber nicht von der katholischen Kirche, sondern von den verschiedenen Religionen: „Die Menschen erwarten von den verschiedenen Religionen eine Antwort auf die verborgenen Rätsel der menschlichen Bedingung“ (Nostra Aetate Nr. 1). Es geht in diesem Text gerade um die Anerkennung der anderen Religionen durch die katholische Kirche und um den epochalen Schritt der Öffnung ihnen gegenüber.

Die ablehnende Tendenz gegenüber dem Katholizismus wird an vielen Stellen deutlich: so wenn das Tridentinum im 16.Jahrhundert als entscheidend für die heutige Gestalt der katholischen Glaubenslehre dargestellt wird, das Zweite Vatikanum als Konzil der Reform und Öffnung zur Moderne im 20. Jahrhundert jedoch in diesem Abschnitt unerwähnt bleibt. Auf der gleichen Linie wird beim Antimodernisten-Eid angegeben: „seit 1910“ – die Abschaffung 1967 im Zuge des Zweiten Vatikanums wird nicht genannt. Dass die römisch-katholische Kirche im späten Mittelalter stecken geblieben sei, daran gibt es für den Autor offenbar nichts zu rütteln. Kritik gehört zu den Kernaufgaben der Universität – auch die Kritik an religiösen Phänomenen. Aber mit ideologisch gefärbten und von Ressentiments getragenen Passagen widerlegt der Autor selbst den Anspruch, den er im Vorwort vertritt: dass er als Atheist „eine objektivere Darstellung des Themas“ Religion bieten könne als Autoren, die einer religiösen Richtung angehören.

Im Zuge der Lektüre stellt sich einem immer mehr die Frage, welche (ambivalente) Faszination für den erklärten Atheisten offenbar von Religion und den Religionen ausgeht, wenn er sich einer solchen gewaltigen Aufgabe stellt. Schließlich ist man als Religionswissenschaftler irgendwie beruhigt, dass einer neutralen Darstellungsweise der Religionen – so wie dies das Fach Religionswissenschaft als empirische Kulturwissenschaft heute anstrebt – und der empirischen Religionsforschung in Österreich noch genug Arbeit überlassen bleibt. ■

Karl Vocelka

Multikonfessionelles Österreich

Religionen in Geschichte und Gegenwart. 304 S., geb., € 29,90 (Styria premium Verlag, Graz)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.11.2013)

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