Hornhaut an den Knien

Was wäre aus Valerie Kutzer geworden, wäre sie ihrem ägyptischen Nachhilfelehrer in seine Heimat gefolgt? Aus dieser Frage entwickelt Barbara Frischmuth bikulturelle Beziehungsgeschichten: „Vergiss Ägypten“ – ein Reiseroman.

Als Valerie Kutzer, die Erzählerin in Barbara Frischmuths neuem Roman, „Vergiss Ägypten“, von einer Germanistikstudentin nach deutschsprachigen Romanen befragt wird, die sich mit dem interkulturellen Dialog auseinandersetzen, gerät sie ins Stottern; für den lateinamerikanischen Raum fällt ihr Erich Hackl ein, für den arabischen Raum nur Autorinnen und Autoren der zweiten und dritten Generation. Frischmuth selbst kann sie schließlich nicht gut nennen, auch wenn die sich diesem Thema seit vielen Jahren verschrieben hat. Die Kultur der anatolischen Aleviten beschäftigt Barbara Frischmuth von „Das Verschwinden des Schattens in der Sonne“ (1973) bis zu den Romanen „Die Schrift des Freundes“ (1998) oder „Die Entschlüsselung“ (2002), und „Der Sommer, in dem Anna verschwunden war“ (2006) erzählt auch eine multikulturelle Familiengeschichte. In ihrem neuen „Reiseroman“ untersucht Frischmuth gleichsam die Tragfähigkeit ihrer Bilder von Kultur und Tradition des Islam vor Ort und vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen.

„Ich falle immer öfter in den Schacht der Zeit und greife auf Geschichten zurück, die nicht nur keine Mitte haben, sondern nicht einmal Geschichten sind. Lose Anfänge und lose Enden, die sich irgendwo in der Tiefe der Jahre verlieren“, heißt es zu Beginn. Und so eine Geschichte ohne Anfang und Ende war auch die Jugendschwärmerei Valeries zu ihrem einstigen Nachhilfelehrer, einem ägyptischen Studenten namens Abbas. Wie in Ingeborg Bachmanns „Undine geht“ alle „Ungeheuer“ Hans heißen, tragen sie in den bikulturellen Beziehungsgeschichten, die uns die Autorin hier erzählt, alle den Namen Abbas. Damit sind sie auch lesbar als potenzielle Lebensentwürfe für Valerie Kutzer, wäre sie ihrem Abbas damals in seine Heimat gefolgt. Viele der Gewährsfrauen, von denen Valerie sich die Lebensgeschichten erzählen lässt, sind Teil der österreichischen Community in Kairo, man hält Kontakt, trifft einander bei Konzerten und Empfängen, wie dem zu Ehren Valerie Kutzers. Es sind Künstlerinnen, Universitätsangestellte oder Geschäftsfrauen, die in Ägypten gestrandet sind, aus Beziehungsgründen, beruflich oder aus Leidenschaft für das Land. Sie alle erleben die Widersprüche der beiden Kulturen, gerade was das Verhältnis der Geschlechter und die Bewegungsspielräume für Frauen betrifft, am eigenen Leib. Gemeinsam ist ihnen auch ihre soziale Privilegierung, billiges Hauspersonal können sie sich hier alle leisten.

Der andere Teil der Erfahrungsgeschichten kommt von Valeries ägyptischen Bekannten. Lamis vor allem, die Kunsthistorikerin, die lange Jahre in Europa gelebt hat. Auch wenn Lamis aus der gebildeten Oberschicht Kairos stammt, ihre Startbedingungen also vergleichsweise gut waren, bedarf ihre unkonventionelle Lebensform als allein stehende Frau einer ständigen Verteidigungsbereitschaft. Von Lamis und ihren Freunden kommen auch Informationen über den Zusammenstoß der Kulturen aus der anderen Perspektive, etwa was es für eine traditionelle Kultur bedeutet, wenn der Brautpreis nicht mehr in Kamelen entrichtet wird, sondern mit einem funktionierenden Kühlschrank.

Für Valerie ist Lamis wie Dantes Beatrice vielleicht die verlässlichste Führerin durch den realen wie mentalen Dschungel der Kairoer Wirklichkeit. Da sich der Reiseroman aus Ägyptenbesuchen seit den Siebzigerjahren speist, werden auch die Veränderungen in der ägyptischen Gesellschaft fassbar, zu denen die Zunahme des Kopftuchs im Stadtbild ebenso gehört wie die Tatsache, dass sich mittlerweile beinahe alle „Gebetsschwielen“ haben wachsen lassen – die Hornhaut an den Knien hat schon dem Berliner Aufklärer Friedrich Nicolai die Verhärtung der gesellschaftlichen Strukturen beim Grenzübergang ins katholische Österreich angezeigt. Dass die Dinge so einfach nie sind, wenn man bereit ist, genauer hinzusehen, erfährt Valerie bei den Diskussionen mit ägyptischen Studentinnen. „Je länger wir miteinander redeten, desto größer wurde die Anstrengung zum Konsens“, trotzdem wird auch sichtbar, wie sehr etwa gerade die Kopftuchfrage mit dem Generationenkonflikt zu tun hat. „Dass die Ägypterinnen in den Sechzigerjahren Miniröcke trugen und sich die Haare toupierten? Kein Mensch erinnert sich mehr daran, nicht einmal Nagib Machfus.“ Und dass ihr heute alle intellektuellen Frauen, mit denen sie spricht, die Entscheidung für das Kopftuch mit „persönlichen religiösen Gewissensgründe“ erklären, macht die Erzählerin einigermaßen ratlos.

Neben diesen gesellschaftlichen Bestandsaufnahmen finden sich auch konventionelle touristische Erlebnisse wie die Folgen der Begegnung mit Ländern, die „nicht durchhygienisiert“ sind, oder die Konfrontation mit eigenen Erwartungshaltungen und Vorurteilen. Wenn Valerie vom Hof her lautes Hämmern hört, weiß sie sofort, das ist einer der Kupferschmiede, die die kunstvoll gehämmerten Tableaus herstellen; später findet sie allerdings nur eine improvisierte Autowerkstatt.

Auch bei der Schilderung gängiger Besichtigungsprogramme baut die Autorin bei allem prinzipiellen Bekenntnis zur Schlichtheit immer wieder überraschende Perspektiven ein. Die Negropolenkunst der ägyptischen Grabmäler liest sie als religiöse Propaganda mit umgekehrten Vorzeichen, „so als sollten nicht die Menschen zur göttlichen Moral, sondern die Götter zur ägyptischen Zivilisation bekehrt werden“. Die Geste der überlegenen Individualtouristin weist Valerie jedenfalls zurück; weshalb die vorgegebenen Trampelpfade verlassen, wenn man schon genug damit zu tun hat, „das Gestattete zu bewältigen“?

Diese Zurückhaltung hat sich Barbara Frischmuth in ihrem Reiseroman auch sprachlich auferlegt. Die Verbindungen zwischen den erzählten Lebensschicksalen wirken oft wie absichtsvoll unverfugt, poetische Bilder sind auch in den Kunst- und Landschaftsbeschreibungen spärlich gesetzt. Einige Motivstränge freilich sind als solche von großer Poesie, etwa die Vorstellung vom Krokodil als Verbindungsglied zwischen dem Mystiker Dhun-Nun, dem Schutzheiligen der von Krokodilen Bedrängten, und der heimischen Kasperlfigur. Denn letztlich bleibt unser Blick bei aller Offenheit stets eurozentristisch. Valerie, Hobbybotanikerin wie Frischmuth selbst, weiß von der Lektüre Flauberts, dass die typischen Bäume Ägyptens die Kassien sind; doch das steht in keinem ägyptischen Lehrbuch und keiner ägyptischen Legende, denn der wirkliche ägyptische Baum ist und bleibt die Sykomore oder Maulbeer-Feige, auch wenn die Flaubert nicht gesehen hat.

Am 8. April liest Barbara Frischmuth um 19 Uhr in der Alten Schmiede,Wien I, Schönlaterngasse 9, aus ihrem Reiseroman.

Die Presse - Spectrum | 5. April 2008

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