Verbaut, verpatzt, verdreckt

Es ist die pure Misanthropie, der Sibylle Lewitscharoff – Tochter eines bulgarischen Auswanderers – herrliche Seiten und einen Roman abgewinnt, der vor witziger Bosheit nur so funkelt.

Rumen Apostoloff ist ein fescher Bulgare, dessen Aufgabe in dem Roman, der seltsamerweise nach ihm benannt ist, darin besteht, zwei deutsche Schwestern durch das Land ihres schon lange verblichenen Vaters zu chauffieren und der älteren der zwei den Hof zu machen. Sonst hat er rein gar nichts zu vermelden in dem nach ihm betitelten Roman, der aus der sprachmächtigen Suada der jüngeren Schwester besteht, die Bulgarien vom Hintersitz des Autos aus betrachtet und das Leben aus dem Fond mit einer Tirade überzieht, deren kunstvolle Bösartigkeit ihresgleichen sucht. Der Titel ist dem Roman in jeder Hinsicht unangemessen, und hätte man mich gefragt, würde ich stattdessen diesen vorgeschlagen haben: „Thomas Bernhard fährt nach Bulgarien und freut sich, dass alles noch viel mieser ist, als er es sich vorgestellt hat“.

Es ist die pure Misanthropie, der die 1954 in Stuttgart als Tochter eines bulgarischen Auswanderers geborene Sibylle Lewitscharoff herrliche Seiten und einen 250 Seiten langen Roman abgewinnt, der vor witziger Bosheit nur so funkelt. Freilich beginnt man sich nach den ersten, äußerst vergnüglichen Kapiteln zu fragen, ob man sich einem fremden Land so nähern soll, wie es die Ich-Erzählerin tut, mit einem angewiderten Blick, dem nur auffällt, was nicht wohlgeraten ist, und mit einer innigen Abneigung, die buchstäblich allem gilt, was sich in Bulgarien an Bulgarischem zu zeigen wagt. Lewitscharoff schreibt allerdings über Bulgarien nicht, um einem unbekannten Land Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, sondern, um über einen ihr nur allzu gut bekannten Bulgaren ihr vernichtendes Urteil zu sprechen: den toten Vater. Das bulgarische Roadmovie, so unterhaltsam, souverän und geistreich es anmutet, ist vor allem eines, ein Buch des Hasses, der sich gegen ganz Bulgarien richtet, weil sein eigentliches Objekt, ein einzelner Bulgare, persönlich nicht mehr greifbar ist.

Was hat der charmante Vater, der sprachlich so ausgefeilt und reich an überraschenden Volten angeklagt wird, Schreckliches verbrochen? Er hat die Töchter nicht missbraucht, er hat die Mutter nicht geschlagen, selbst „in puncto Alkohol blieb unser Vater maßvoll“, seine Stimme war die schönste im bulgarischen Männerchor von Stuttgart, und er galt den Frauen als attraktiv, ohne das ehebrecherisch auszunutzen. Nach 250 Seiten nachgetragenen Hasses zeigt sich, dass dieser Vater nur einen, allerdings unverzeihlichen Fehler hatte: Er war unheilbar traurig und hat Frau und Töchter auf die schändlichste Weise im Stich gelassen, indem er sich, ein geachteter Mann und von seinen Patientinnen verehrter Frauenarzt, mit 43 Jahren erhängte. Dafür lässt Sibylle Lewitscharoff, die in Interviews den autobiografischen Hintergrund ihres Romans zugleich betonte und spielerisch abwies, jetzt das Land büßen, aus dem er stammte.

Abscheulichste Sprache der Welt

Was ist mit der Küste des Schwarzen Meeres? „Verbaut, verpatzt, verdreckt. Das aschgraue Meer – leergefischt. Das bulgarische Essen? Ein in schlechtem Öl ersoffener Matsch. Bulgarische Kunst im 20.Jahrhundert? Abscheulich, und zwar ohne jede Ausnahme. Die Architektur aus dem 19.Jahrhundert? Ein Verbrechen! Traurig, aber wahr, die bulgarische Sprache dünkt uns die abscheulichste von der Welt. So eine weichliche, plump vorwärtsplatzende Sprache, labiale Knaller, die nicht zünden wollen.“ Bei all diesen ausgewogenen Urteilen soll nicht übersehen werden, dass die Ich-Erzählerin sie ihrer festen familiären Überzeugung verdankt: „Halten wir fest, dass unser Vater ein typischer Bulgare war.“ Punktum.

Jetzt aber der Reihe nach. Im Jahr 1945 tauchten in Stuttgart 20 Bulgaren auf, Strandgut des Krieges, Flüchtlinge der sich formierenden kommunistischen Staatsmacht, unter ihnen ein Pope, eine einzige Frau und ein schön melancholisch dreinschauender Mann, der der Vater der beiden Schwestern wird, die jetzt durch Bulgarien chauffiert werden. Wie es bei versprengten Gruppen von Emigranten nicht selten der Fall ist, handelte es sich bei den Stuttgarter Bulgaren um einen vom Zufall zusammengewehten Haufen von Leuten, die miteinander nicht viel gemein hatten – außer ihren zunehmend sentimentaler werdenden Erinnerungen – und der dennoch nie ganz zerfiel. Auf Heimatabenden wird das Schicksal der Heimatlosigkeit rituell als Gemeinschaftserlebnis erneuert, und diejenigen, die in der deutschen Nachkriegsgesellschaft sonst kaum Freundschaft schließen würden, ein Arzt, ein Gärtner, ein Hilfsarbeiter, ein Großverdiener im Import-Export-Geschäft und ein Bordellier, bleiben einander in der Gemeinschaft der Exilanten auf ewig verbunden.

Sibylle Lewitscharoff schildert die kleinen Intrigen und großen Illusionen der fleißigen Stuttgarter Bulgaren mit kundigem Spott. Vieles erinnerte mich an eine ganz andere Gruppe von Zuwanderern, an die Donauschwaben von Salzburg, in deren Kreisen ich aufgewachsen bin und in denen es, vermutlich nicht allein deswegen, weil auch sie vom Balkan kamen, recht ähnlich zuging wie bei den Bulgaren im schwäbischen Stuttgart.

Seine raumgreifende Bewegung verdankt der Roman einer aberwitzigen Ausgangsfiktion. Am weitesten von allen Stuttgarter Bulgaren hat es ein anrüchiger Geschäftsmann namens Tabakoff gebracht, der in die USA weitergewandert war und jetzt, da die Bulgaren in Stuttgart schon gestorben sind, mit einem kuriosen Ansinnen noch einmal zurückgekehrt ist. Heimholen möchte er seine Kameraden von einst. „Verstreut lagen die Bulgaren, mal als relativ frische Leichen, mal als uralte, auf den Stuttgarter Friedhöfen herum und warteten offenbar auf nichts anderes, als dass Tabakoff sich ihrer annehme. Er, der Letzte vom Stuttgarter Bulgarenverein, war gekommen, ihre Reste einzusammeln, um sie nach Sofia zu überführen.“In 13 mit deutscher und bulgarischer Flagge bekränzten Limousinen lässt er ihre Knochenin die teure bulgarische Heimat bringen. Ein kurioser Konvoi, in dem die Witwen und Kinder der Verewigten in Luxuswägen sitzen und voran in zwei schwarzen Karossen die Gebeine transportiert werden, zieht auf Tabakoffs Kosten von Stuttgart quer durch Europa nach Sofia. Natürlich gerät der „Triumphzug“ zur Travestie einer europäischen Bildungsreise.

Erzählerisch bietet diese Ausgangslage Sibylle Lewitscharoff einerseits die Gelegenheit, in den Porträts der Mitreisenden die Geschichte der bulgarischen Exilgemeinde aus der Vergangenheit der Fünfziger- und Sechzigerjahre heraufzuholen, und andrerseits, mit hellsichtigem Hohn zu kommentieren, was es auf der Ostland-Reise der Gegenwart alles zu sehen gibt. Aus den wilden Knaben, mit denen die Schwestern einst bei den bulgarischen Festen spielen durften oder mussten, sind langweilige Karrieristen oder langweilige Versager geworden; die blonden Damen von damals – alle schnauzbärtigen, schwarzhaarigen, glutäugigen Bulgaren haben sich ausnahmslos blonde oder rigoros bis ins hohe Alter blondierte deutsche Frauen genommen – stolpern jetzt als tatterige Greisinnen durch das Land ihrer unvergessenen Gatten.

Kann man einen Roman schreiben, ohne auch nur für eine einzige seiner Figuren Sympathie zu empfinden? Einige Verstorbene werden erwähnt, zum Beispiel die Witwe Tabakoffs oder ein Rosenzüchter und seine Frau, die es beruflich zu nichts gebracht haben, bei denen so etwas wie
Sympathie in der Erzählerin aufzukeimen scheint, die von sich sagt: „Vielleicht zieht mich das Hässliche an, weil ich unaufhörlich nach Beweisen suche, wie verrottet und verderbt die Welt ist.“ Aber im „Apostoloff“ Lewitscharoffs ist es wie in der „Fackel“ des Karl Kraus: nicht genannt zu werden, ist Auszeichnung und Privileg, und darum verschwinden alle Gestalten, von denen die Bedrohung ausgeht, sich womöglich nicht als Monster zu erweisen, rasch wieder aus dem Roman. Präsent bleiben in ihm die beiden ältlichen Schwestern, die eine mit ihrer peinlichen Schwärmerei für den smarten Rumen Apostoloff, die andere mit ihrem peinigenden Zwang, alles wahrzunehmen, was Auge, Ohr und Verstand verletzt.

Davon ist reichlich vorhanden. Die Landschaft Bulgariens, viel gerühmt für ihre Schönheiten – Lewitscharoff zeigt in schauerlichen Bildern, wie sie von der kommu-nistischen Großindustrie, die längst in giftigen Ruinen wittert, versehrt wurde. Die schönen alten Städte Plovdiv, Schumen, Varna: Orte, die von der „Gebäudelepra“, von den „Staatsgeschwulsten“ des realen Sozialismus verunziert sind. Und erst die Hotels und Gasthäuser! Entweder sind sie so schmutzig, dass man durch die Fenster kaumins Freie sieht, oder es ist gerade so rabiat geputzt worden, dass „es durchdringend nach Reinigungsmitteln riecht“. Schmutz oder Sauberkeit, dem deutschen Gemüt ist es einfach nicht gegeben, sich in Bulgarien heimelig zu fühlen! Allerdings handelt es sich bei dem alt gewordenen deutschen Mädchen auch um ein Lebewesen, das sich vom ersten Foto, das es von ihm im Kinderwagen gibt, bereits „mit der verdrießlichen Miene eines Menschen blicken sieht, der das Leben nicht liebt“.

Universale Verdrießlichkeit

Solche Selbstcharakterisierungen, wie nebenhin über den Text verstreut, sollen die apodiktischen Urteile, die über ein ganzes Land und alle, ausnahmslos alle seine Bewohner gefällt werden, ein wenig relativieren. Und doch könnte einen die universale Verdrießlichkeit der Erzählerin am Ende auch selbst ein wenig verdrießlich stimmen. Der Vater bleibt als Objekt des Hasses eine ebenso blasse Gestalt wie der Chauffeur Rumen Apostoloff als Objekt der Begierde – zwei Schießbudenfiguren, denen die Ehre, es zu eigenständigen Charakteren zu bringen, strikte vorenthalten wird.

Verblüffende Entdeckungen und altbekannte Ressentiments, glänzende Beobachtungen und gängige Vorurteile gehen hier mitunter eine ungebührliche Verbindung ein, die bloß deswegen, weil Lewitscharoff virtuos zu schreiben und ihre Pointen sicher zu setzen weiß, noch nicht angenehmer wird. Es wimmelt nur so von Sätzen wie: „Erstaunlicherweise für einen Bulgaren geht er nicht in einer Wolke von Rasierwässern einher.“ Oder: „Die Frauen signalisieren: wir sind Huren, die Männer: wir sind brutal. Während der gesamten Reise ist uns noch keine einzige elegante Frau begegnet und kein einziger Mann in einem gut geschnittenen Anzug.“

Na ja, dass der Osteuropäer mit einem Trainingsanzug auf die Welt gekommen und die Osteuropäerin eine geborene Nutte ist, das weiß man schon aus dem Fernsehen, aus der Boulevardpresse und – wenn man sich entschieden hat, von der Welt nur zu sehen, was man sehen will – von mir aus auch von einem verpatzten Pauschalurlaub. Pauschal ist die Kritik in diesem Roman, also ist sie per definitionem, dass Kritik Unterscheidung bedeute, gar keine. Unterhaltsam und witzig, sodass man bei der Lektüre immer wieder hellauf lachen muss, spielt „Apostoloff“ mit vielen Klischees, an denen der Roman zugleich partizipiert, ungeniert und gut gelaunt wie selten einer. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.02.2009)

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