Was tun mit dieser EU?

Ein Politologe und ein Jurist über Institutionen, Abläufe und Krisen.

Es gibt mancherorts ein latentes Unbehagen mit dem aktuellen Stand der Europapolitik, das sich in eloquent formulierten, juristisch wasserdichten Argumenten gegen das heutige Geschäftsgebaren der europäischen Institutionen manifestiert. Diese Spielart der Europaskepsis, die nicht auf eine Zerschlagung der EU abzielt, sondern die Union vielmehr auf den Pfad der Tugend zurückführen will, wird vor allem in Deutschland praktiziert. In zwei unlängst erschienenen Bänden wird die Kritik besonders anschaulich dargelegt. Der Politologe Hans-Peter Schwarz setzt sich mit der europäischen Reaktion auf die Flüchtlingskrise auseinander, während der Jurist und ehemalige Verfassungsrichter Dieter Grimm das Missverhältnis zwischen der tatsächlich gelebten demokratischen Praxis innerhalb der EU und der Gestaltungsmacht des Europäischen Gerichtshofs beschreibt.

Beiden Analysen ist gemein, dass sie auf vermeintlich fatale Lücken im Bauplan des gemeinsamen Hauses Europa hinweisen. Für Schwarz ist es eine naiv-schönfärberische Asylpolitik, die sechs Milliarden Menschen die Möglichkeit eröffnet habe, „sich gewissermaßen via Asylbestimmungen in die Europäische Union einzuklagen“. Grimm wiederum geht es nicht um offene Flanken bei der Interaktion mit der Außenwelt, sondern um die internen Arbeitsabläufe im Maschinenraum der europäischen Institutionen. Seiner Interpretation zufolge ist der EuGH seit den 1960er-Jahren schleichend dazu übergegangen, die europäischen Verträge wie eine Verfassung auszulegen, um über den Umweg des Binnenmarkts die Integration voranzutreiben – und das ohne Rücksicht auf etwaige nationalstaatliche Bedenken. Die Konsequenz dieser Rechtspraxis ist ein zunehmend steiles Gefälle zwischen der EU und ihren Mitgliedern, denn die Luxemburger Höchstrichter können leichter nationale Gesetze kassieren, als die EU-Mitglieder europäische Gesetze schreiben – dafür bedarf es nämlich eines Vorschlags der EU-Kommission sowie satter Mehrheiten im Europaparlament und im Rat.

Die Art, in der diese Diagnosen gestellt werden, impliziert zugleich die empfohlene Behandlung: eine Rückbesinnung auf den Nationalstaat als primären politischen Akteur. Der Rechtsexperte Grimm will dieses Ziel mittels einer Stärkung des Rats der Europäischen Union und Aufwertung nationaler Höchstgerichte erreichen. Der Zeithistoriker Schwarz wiederum geht von der Grundannahme aus, wonach „Demokratie und gesicherte Grenzen“ zusammengehören und der Ausweg aus der Flüchtlingskrise in einer De-facto-Abschaffung der unkontrollierten Personenfreizügigkeit innerhalb der Schengenzone liegen muss. Nur so könne sich Europa vor einer drohenden „Elendsinvasion“ aus dem Süden schützen.

Die von Schwarz heraufbeschworene Invasionsgefahr offenbart eine zentrale Schwachstelle seiner Analyse: Die Beschreibung der inneren Widersprüche der EU hat eine Substanz, die den Ausführungen zur Lage in Afrika und Nahost leider fehlt. Seine Behauptung, wonach das Gros der Neuankömmlinge integrationsunwillig sei, wird weder empirisch belegt noch argumentativ untermauert – ebenso wie die kühne Prognose, die Gesamtheit der arabischen Staaten werde sich demnächst „in einer längeren Abfolge von Konvulsionen auflösen“.

Mit fortschreitender Lesedauer stellt sich der Eindruck ein, als hätten die Ereignisse des Herbsts 2015, als rund eine Million Flüchtlinge und Migranten nach Deutschland kamen, den Autor in einen Schockzustand versetzt, von dem er sich bis dato nicht erholt hat. Schwarz ist trittsicher, wenn er mit Brüssel und Berlin wegen der nicht durchdachten, panikartigen Versuche, den restlichen EU-Mitgliedern einen Teil der Neuankömmlinge aufzuzwingen, hart ins Gericht geht. Sobald allerdings von „Masseneinwanderungen“, „Flüchtlingswellen“ und „Völkerwanderungen“ die Rede ist, wird aus der nüchternen Bestandsaufnahme rasch eine aufgekratzte Polemik. ■

Die Autoren

Hans-Peter Schwarz

Die neue Völkerwanderung nach Europa

Über den Verlust politischer Kontrolle und moralischer Gewissheiten, 256 S., geb., € 20,60 (DVA, München)

Dieter Grimm

Europa ja – aber welches?

Zur Verfassung der europäischen Demokratie. 288 S., geb., € 25,70 (C. H. Beck Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.08.2017)

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