Im Westen nichts Neues?

Was wäre das Abendland ohne all die Visionen von seinem Untergang? Jetzt ist der deutsche Historiker Heinrich August Winkler dran: Mit „Zerbricht der Westen?“ klärt er „Über die gegenwärtige Krise in Europa und Amerika“ auf. Nicht zuletzt über die Causa prima: Flüchtlinge und Migration.

Europa findet man auf der Landkarte ziemlich leicht, man kennt seine Grenzen, doch wo liegt der Westen? Der Begriff scheint etwas vage zu sein, mehr ein ideologisches oder kulturelles Konzept zu umfassen. Der Westen sind wir, die erfolgreichste Zivilisation der Geschichte, „wir, wenn wir uns von unserer besten Seite zeigen“ (Jürgen Osterhammel), antiwestlich sind die Fanatiker, die Extremisten, die Mullahs und die Kims. Der Westen ist eine Idee; verraten wir sie, gleiten wir in den moralischen Abgrund.

Gerne sehen wir den Westen, das Abendland, untergehen. Apokalyptische Visionen bringt der Sachbuchmarkt im Überfluss hervor, vor allem die angebliche Dauerkrise der Europäischen Union lädt dazu ein. Schon vor Jahren schrieb Martin Schulz über die „letzte Chance“ Europas, Joschka Fischer unkte „Scheitert Europa?“, und jüngst warnte der ungarische Intellektuelle Ivan Krastev in seinem Essay „Europadämmerung“ vor dem Niedergang des europäischen Einigungswerks. Nun also der Berliner Historiker Heinrich August Winkler, der in der Bundesrepublik außerhalb des universitären Rahmens zum vielfach konsultierten Zeitanalytiker, Talkshowgast und sogar Gastredner im Deutschen Bundestag wurde. Winkler hat 20 Jahre Forschungstätigkeit der „Geschichte des Westens“ gewidmet, das jüngst veröffentlichte Buch „Zerbricht der Westen?“ mutet an wie ein unmittelbar an die Gegenwart heranführender Appendix seiner monumentalen mehrbändigen Geschichte des langen Wegs des Westens von der Antike bis in die Gegenwart.

Zyklische Vorstellung von Geschichte

Was versteht Winkler unter dem „Westen“, den er nun in Gefahr sieht? Für ihn ist er nicht primär ein politisches Gebilde oder eine feste Allianz, sondern eine Wertegemeinschaft, ein normatives Konzept mit den unabdingbaren Elementen Gewaltenteilung, Menschenrechte, Trennung von Staat und Religion, repräsentative Demokratie, ein Konzept aufklärerischer Grundwerte, das sich über Jahrhunderte entwickelte, ein ständiger Prozess, der sich nicht linear, sondern in vielen Zickzackkursen entwickelte.

Warum jetzt die Endzeitstimmung? Ist es die Zusammenballung von Finanzkrise, Flüchtlingsströmen, Brexit, autoritärem Nationalismus, Populismus im Verein mit den führungslos dahintrudelnden USA? Ein (fast) blitzartiger Zusammenbruch, wie er die Mächtigen 1789 oder 1989 erwischt hat, zeichnet sich nicht ab. Also eine langsame Erosion? Dieses Klischee vom allmählichen Niedergang ist nicht neu, es hält sich zäh als Erbe alter zyklischer Vorstellungen vom Geschichtsverlauf. Oder will Winkler nur warnen?

Im Wesentlichen ist das Buch des Großhistorikers eine chronologische Darstellung der Ereignisse der vergangenen Jahre, bis hin zum Juli 2017, Trump und Macron sind bereits eingearbeitet. Fleißigen Zeitungslesern ist die Abfolge von Krisen weitgehend bekannt, sie bedürfen der reinen Deskription nicht. Der enorme Fleiß, mit dem hier die entscheidenden Konferenzen und politischen Manöver vor allem innerhalb der EU beschrieben werden, soll nicht gering geschätzt werden, doch das können Journalisten auch. Vom großen Historiker Deutschlands erwartet sich der Leser eine tief gehende Analyse. Diese lässt er, was soziale und wirtschaftliche Entwicklungen betrifft, völlig vermissen. Kann eine Analyse der Krise des Westens wirklich zufriedenstellend ausfallen, wenn sie sich allein auf die Politik konzentriert? Winkler wird überdies Opfer der allzu großen Gegenwartsnähe seiner Darstellung, oft muss er zu banalen Sätzen greifen: Der Ausgang eines Prozesses sei noch nicht absehbar, völlig offen, etwas „konnte zum Zeitpunkt des Geschehens noch niemand vorhersagen“. Der Abstand zum Geschehen, der dem Historiker im Vergleich zum Journalisten die Souveränität der Analyse erlaubt, geht verloren.

Wie steht es mit einer Positionierung des Autors in brennenden aktuellen Fragen etwa innerhalb der Europäischen Union, deren akuten Problemen er einen Großteil seines Buches widmet? Winkler spart hier nicht mit klaren Urteilen über das, was falsch gelaufen ist und wo dringender Änderungsbedarf besteht. Mit der Duldung der „autoritären Deformation“ einiger ihrer Mitgliedsstaaten (gemeint sind die Entwicklungen in Ungarn und Polen) werde die „Beschwörung der EU als Wertegemeinschaft immer mehr zu einer inhaltslosen rhetorischen Floskel, ja zu einem Akt des Selbstbetrugs“.

Nur wenn die EU in wichtigen Fragen mit einer Stimme spräche, könnte sie ein Korrektiv zu den USA sein, der bisherigen Führungsmacht des transatlantischen Westens, die in eine schwere Identitäts- und Systemkrise geraten sei, da dem amtierenden Präsidenten das normative Erbe seines Landes nichts mehr zu bedeuten scheine. Doch wie soll das funktionieren in einer EU, in der sich einzelne Mitgliedsstaaten den politischen Ordnungsvorstellungen von Donald Trump oder Wladimir Putin näher fühlen als denen der Gründungsmitglieder der Union?

Auch zum alles beherrschenden Thema in Europa, Flüchtlinge und Migration, nimmt Winkler klar Stellung. Er wirft den Bundeskanzlern Deutschlands und Österreichs vor, am 5. September 2015 die Abstimmung innerhalb eines europäischen Krisengipfels versäumt zu haben. So konnte in Europa der Eindruck eines gewollten deutsch-österreichischen Alleingangs aufkommen. „Vor allem links der Mitte traf man in Deutschland im Herbst 2015 auf das verbreitete Gefühl, dass das eigene Land nach schrecklichen Irrwegen und Katastrophen endlich im Stadium der moralischen Reife angekommen und mit sich im Reinen war.“ So entstand nach Winkler ein supra- oder postnationales Sendungsbewusstsein, das von einem Anspruch auf moralische Hegemonie kaum zu unterscheiden war. Kein Wunder, dass Deutschland in der Folge isoliert blieb.

Wenige Wochen nach Erscheinen von Winklers Warnung scheint die EU-Apokalypse abgesagt. Die Krise um das Brexit-Referendum wurde bisher gut überstanden. Kein Mitglied folgte dem britischen Beispiel, momentan scheinen die Probleme Großbritanniens durch den Austritt größer als die der EU. Im Bereich der Verteidigungsunion zeichnet sich ein Zusammenrücken ab. Mit dem französischen Präsidenten ist nach Längerem wieder ein Visionär an die Spitze eines wichtigen EU-Staates gerückt. Ist Winklers Buch also wenige Wochen nach seinem Erscheinen in seiner Dramatisierung schon überholt?

Nein. Das Ergebnis der deutschen Bundestagswahl zeigt, welch großen Glaubwürdigkeitsverlust etablierte demokratische Parteien durch den Umgang mit der Massenmigration erlitten haben. Winkler verlangt von den Protagonisten „verantwortungsethisch durchdachte Antworten“, mehr Realismus, eine redliche Politik in Migrationsfragen – nur dann könne die liberale Demokratie gegenüber den populistischen Profiteuren geschützt werden. ■

Heinrich August Winkler

Zerbricht der Westen?

Über die gegenwärtige Krise in Europa und Amerika. 494 S., geb., € 25,70 (C. H. Beck Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.10.2017)

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