Stones, Rilke, Marx

Ohne Kritik ist Pop nichts anderes als Propaganda, so Georg Seeßlen. Andy Warhols "Mao" im Paris Modern Art Museum.
Ohne Kritik ist Pop nichts anderes als Propaganda, so Georg Seeßlen. Andy Warhols "Mao" im Paris Modern Art Museum.APA/EPA/ETIENNE LAURENT
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Die Popmusik liefert zwar einen Wahnsinnsvorrat an Poesie, aber auch an Verblödung. Anarchisch-witzig und mit bayrischem Humor unterzieht Georg Seeßlen in großen Essays das Phänomen Pop einer kritischen Analyse.

Zeit seines Lebens habe er Pop geliebt und gehasst. Mit diesem Eingeständnis der Gefühlsambivalenz eröffnet der Publizist Georg Seeß len sein Buch über Pop als sowohl aktivierende als auch passivierende Projektionsmaschine im Spannungsfeld zwischen Repression und Emanzipation. Die durchdachte Folge von kapitelweise sich aufeinander beziehenden Essays versteht der enorm produktive Kulturkritiker im Sinne Brechts als eine Sammlung von Vorschlägen. Wobei es ihm weder ums Rechthaben noch um das Sortieren der Guten von den Bösen geht, sondern darum "auszuprobieren, wohin und wodurch man noch frei denken kann". Auf Basis von Antonio Gramscis Hegemonietheorem will Seeßlen den Beziehungen zwischen Pop und Politik nachspüren: "Popkultur ist unter anderem, was einst Religion war. Das heißt, ein Wahnsinnsvorrat an Poesie, Fantasie und Vergnügen und ein Wahnsinnsvorrat an Verblödung, Unterdrückung und Angst."

Anfangs wird dem Pop der 1960er- und 1970er-Jahre ein doppeltes Potenzial zugeschrieben. Damals "war es möglich, Rolling Stones und Chuck Berry zu hören, und gleichzeitig Rilke und Marx zu lesen". Der Klassencharakter der Differenz von Hoch- und Massenkultur war kurz brüchig, weil in der Hochkultur enthaltene Instrumentarien der Kritik im Sinne eines Archivs der Befreiungskämpfe wirken konnten. Die im Neoliberalismus erfolgte Bewegung der Macht von der Hoch- zur Massenkultur als Demokratisierung zu sehen wäre aber falsch. Denn heute sind die "Fabrikationsanlagen der populären Kultur so fest in den Händen der ökonomischen Elite, wie die bürgerliche Kultur nie war, und andererseits ist der Verzicht auf die ,Hochkultur' auch nichts anderes als ein Verzicht auf Emanzipation und Fortschritt. Wenn ,das Volk' auf eine Kultur hereinfiele, die behauptet, man brauche nicht mehr als ,Traumschiff', ,Bild'-Zeitung, Oktoberfest und Internetpornos, und ein Mehr an Kultur und Kunst sei nur ,elitär' und ,abgehoben', dann hätte dieses Volk alles für seine Selbstentmachtung getan." Noch besteht Hoffnung: "Glücklicherweise aber ist dieses Volk nur eine Erfindung von Wurstreklame und Rechtspopulismus."

Das Kapitel mit der Überschrift "Prekariatsblues oder Pop und die Klasse, die keine ist" basiert auf Seeßlens Selbstreflexion. Der Popkritiker und eine Aushilfsverkäuferin treffen sich beim Bäcker, im Hintergrund belegt eine Frau mit Kopftuch die Brötchen. Es gibt keine Interaktion, die jeden für sich das allen dreien Gemeinsame erkennen ließe: ihre prekäre Lebenssituation. "Wir sind alle unterbezahlt", denkt der Popkritiker, "unsicher beschäftigt, ohne Planungssouveränität in unserem Leben, vom Überlebenskampf ermattet und zugleich gierig nach Spektakel und Sensation; aber zur gleichen Zeit leben wir sowohl in der Arbeit als auch jenseits von ihr in solch unterschiedlichen kulturellen, körperlichen und ästhetischen Umständen, dass uns der Gedanke von Solidarität und Gemeinschaft gar nicht kommt."

Für das Prekariat, so Seeßlens, hat Pop nur die Funktion als Produktion und Angebot ästhetischer Distinktionsmerkmale zur Verschleierung der Ausbeutungsverhältnisse: Die Verkäuferin hört Helene Fischer, die Frau mit dem Kopftuch Nostalgisches aus der Heimat, der Popkritiker schwadroniert über Ethnopunk. Der Witz dabei: Könnte nicht die Verkäuferin auch in einer New-Wave-Band spielen und die Kopftuchfrau bosnische Lyrik übersetzen? Und der Popkritiker, hat er nicht längst einen Nebenjob als Hobbyimker? Was nichts am Endbefund ändert: "Die Prekären sind verbunden und getrennt durch die Produktion der populären Kultur. Die Kultur ist es, die auch die ökonomisch noch so nahen Menschen voneinander trennt und es unmöglich macht, dass man miteinander ins Gespräch kommt, sich womöglich politisch organisiert."

Auf den Prekariatsblues lässt Seeßlen eine kleine Poptheorie folgen. Pop wird sowohl als Mythos analysiert als auch in seiner Entmythisierungs- und Entpolitisierungsfunktion beschrieben. Es folgen Betrachtungen über Kannibalisierung, Vergespensterung, Selbstverzehrung und Entwirklichung. Besonders hier lässt Seeßlen neben seinem Theoriefundus und der enormen Belesenheit auch anarchischen Witz und bayrischen Humor aufblitzen: "Keith Richards führt vor, dass du mit Rheumatismus und Gicht in den Händen noch zur größten "Rock'n'Roll-Band aller Zeiten gehören kannst; Lady Gaga vollzieht immer und immer wieder die Metamorphose vom Aschenbrödel zur Kunstprinzessin; Merilyn Manson spielt vermutlich noch als Großvater den pubertären Bürgerschreck, und Alice Cooper darf schon mal in der Kita aufschlagen, als ewige Wiederkehr des Krampus, der wirklich nur ein kleines bisschen Angst macht." Und: "Helene Fischer sieht aus wie jemand, der sogar beim Kacken immer noch wie Helene Fischer aussieht."

Sexualität und Marktwirtschaft, Titten und Kopftücher, Sperma und Profit. Pop als eine Sprache zwischen Liebe und Profit, das Volkstümliche auf dem Weg zum Völkischen, Folk-Pop mit nationalistischen, rassistischen und sexistischen Botschaften. Die Strategie der rechten Hegemonialisierung in den Bereichen der Popkultur, Ästhetik und Demokratie als Verfallsgeschichte. Das alles sind Themen in diesem dringend notwen digen Buch, das mit einer Warnung und einem Plädoyer endet: "Was geschehen kann, ist das Verschwinden der gesellschaftlichen Instanzen des Aushandelns, Relativierens, Debattierens und Widersprechens; was verschwinden kann, ist, kurz gesagt, die Kritik. Eine intelligente, freie und vielfältige Kritik. Ohne Kritik ist Pop nichts anderes als Propaganda. Nur durch eine radikale Kritik kann Pop noch gerettet werden vor der selbst verschuldeten großen Egalheit."

Die nicht nur der Traumfabrik Pop impliziten Spannungsfelder, deren kulturindustrielle Erzeugnisse ohne Liberalisierungsversprechen unvermarktbar wären, die aber ihre Empfänger primär zum Konsumenten degradiert, thematisiert Seeßlen gemeinsam mit Markus Metz in "Freiheitstraum und Kontrollmaschine" in ihrem gesamtgesellschaftlichen Verwertungszusammenhang. "Der ideale Punkt im demokratischen Kapitalismus ist erreicht, wenn die Versklavung vollständig ,freiwillig' und lustvoll vollzogen wird", heißt es hier. Der im Stadionkonzert ekstatisch brüllende Rockfan ist vielleicht die paradigmatische Verkörperung des Popkonsumenten an genau diesem Punkt. 

Georg Seeßlen diskutiert im Rahmen der diesjährigen "Literatur im Herbst" zum Thema "Anderswelten" am 25. November um 15 Uhr im Wiener Odeon, Taborstraße 10.

Georg Seeßlen

Is This the End?
Pop zwischen Befreiung und Unterdrückung. 200 S., brosch., € 16,50 (Edition Tiamat, Berlin)

Georg Seeßlen, Markus Metz
Freiheitstraum und Kontrollmaschine.
Der (vielleicht) kommende Aufstand des nicht zu Ende befreiten Sklaven. 500 S., brosch., € 26,50 (Bahoe Books, Wien)

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