Die Damen auf No. 5

Wir werden älter und älter, die Gesellschaft überaltert, und die Literatur antwortet mit einem neuen Genre: dem Seniorenheim- und Krankenhausroman. „Fliegengewicht“: der erfrischende Erstling der jungen Salzburgerin Anna-Elisabeth Mayer.

Wir werden alle älter, und wir leben – jedenfalls im Durchschnitt – immer länger. Und weil es um die Geburtenraten in vielen Ländern nicht gut bestellt ist, überaltern die Gesellschaften, zum Leidwesen der Krankenversicherungen und Rentenanstalten. Eine Literatur, die sich etwas darauf einbildet, soziale Entwicklungen zu spiegeln, kommt folglich nicht umhin, die Schauplätze zu wechseln. So interessant es sein mag, in den Untergrund der Berliner Jugendszene abzutauchen – realistischer ist es, wenn sich Autoren mehr und mehr um die Schwachen, Alten und Dementen der Gesellschaft kümmern und ihre Akteure in Seniorenheime oder Krankenhäuser platzieren. Die 1977 in Salzburg geborene und in Wien lebende Anna-Elisabeth Mayer hat diesen Trend früherkannt und gleich in ihrem Debütroman umgesetzt. „Fliegengewicht“ spielt in einem Wiener Krankenhaus, genauer: in dessen Damenzimmer No. 5, in dem drei Frauen im fortgeschrittenen Alter auf ihre Genesung oder ihr baldiges Ableben warten.

Frau Ott, Frau Blaser und Frau Ferdinand – so heißen die duldsamen Dauergäste des Hospitals, und viel ist es nicht, was das Leben ihnen noch zu geben vermag. Man baut auf das abendliche Fernsehprogramm mit seinen erquicklichen Quizsendungen, kramt in Erinnerungen, redet vor sich hin, missversteht einander und freut sich daran, wenn Dr. Winter – ein Beau, der jeder Arztserie gut zu Gesicht stünde – zur Visite antritt. Neuen Schwung ins muffige Krankenzimmer bringt erst ein Neuzugang, eine von einem Schwächeanfall dahingeraffte Restauratorin, die von der Seniorenriege ob ihrer blutjungen 30Jahre als „Küken“ taxiert wird.

Es ist dieser einfache Kunstgriff, mit dem Anna-Elisabeth Mayer Wirkung erzielt. Die junge Frau, die als Ich-Erzählerin fungiert, will mit den redselig-anstrengenden Damen nichts zu tun haben und wird dennoch zur unfreiwilligen Beobachterin der Hospitalrituale, zumal ein Perikarderguss ihren Aufenthalt verlängert. Wohl oder übel nimmt sie Anteil an dem, was das reduzierte Leben der Maladen bestimmt. Da ist die schlecht hörende Frau Blaser, die ihren vor allem am Vogelhausbau interessierten Sohn Reini endlich an die Frau bringen will und plötzlich Besuch von ihrer in Amerika lebenden Tochter Ursl bekommt. Da hören wir Frau Ott, die eine Sophia-Loren-Biografie studiert und am liebsten von ihren verflossenen Liebschaften berichtet. Und da bemitleiden wir Frau Ferdinand, die von der Grabesruhe träumt und ihren von einer zweifelhaften Gefährtin auf Diät gesetzten Sohn Georg, einen erfolgreichen Scheidungsanwalt, anhimmelt.

In den sechs Kapiteln von „Fliegengewicht“ entfaltet sich ein kunterbuntes, mal schrilles, mal verhaltenes Dialoggewirr, das von Leitmotiven und Running Gags zusammengehalten wird. Anna-Elisabeth Mayer verfügt über ein nicht geringes Talent, komische Gesprächssituationen zu erzeugen, schlagfertige Pointen zu setzen und Menschen in ihren Obsessionen zu zeigen. Lebenssentenzen wie „Mein Mann war ein guter Mann. Nur schnell bös geworden ist er halt“ geben den Charakteren Farbe und lassen Lebensabgründe erkennen, die sich alle Beteiligten konsequent schönreden. Dramaturgischen Pfeffer erhält die bisweilen fade Suppe des Hospitalalltags durch – wie könnte es anders sein – amouröse Verwicklungen. Angefeuert durch ihre Zimmergenossinnen, nähert sich die unter Liebesschmerz leidende Erzählerin dem verführerischen, obgleich verheirateten Dr.Winter an und erliegt seinen „Huskyaugen“, sobald die Aufforderung, sich freizumachen, zweideutig zu klingen beginnt.

Das alles ist flott erzählt und wirkt vor allem dort gelungen, wo Anna-Elisabeth Mayer all ihren Witz daransetzt, den Stimmenwirrwarr im Damenzimmer einzufangen. „Fliegengewicht“ will freilich nicht nur komisch sein, und so wagt es die Autorin, je weiter der Roman voranschreitet, behutsam eine Ernsthaftigkeit einzubauen, die aus plappernden Figuren plötzlich verletzliche Wesen macht. Deren Biografien weisen wesentlich mehr Brüche auf, als es das Oberflächengerede vermuten lässt. Verpasste Lieben und windschiefe Familienkonstruktionen gehören zum Leben der Otts, Blasers und Ferdinands, und alsbald ist das Damenzimmer No. 5 von diesen Grauschleiern überzogen. Den Balanceakt zwischen Ernst und Heiterkeit vollführt Anna-Elisabeth Mayer meist mit erstaunlicher Sicherheit. Die angedeuteten Liebesszenen („Aus seinen Augen fiel der Schnee“) zwischen der Erzählerin und dem Don Juan im Arztkittel zählen nicht dazu, und über einige wenige Passagen sollte man das darin zitierte taktvolle Kleidungsstück legen: „Und wie er ihr aus dem Mantel half, in der Hoffnung, dass der Mantel des Schweigens über allem bliebe.“ Das alles ändert wenig daran, dass „Fliegengewicht“ ein erfrischender Erstling und eine Bereicherung ist – nicht nur für das Genre des Krankenhausromans. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.11.2010)

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