Kleine und große Teufel

Gibt es eine Archaik des Bösen? Für den Kulturtheoretiker Terry Eagleton gibt es vom Bösen durchdrungene Wesen, für den Jugendpsychiater Michael Günter hingegen sind die ganz Bösen nicht ganz so böse.

Ein Bonmot des Frankfurter Philosophen Martin Seel lautet: „Die ganz Guten sind nicht ganz so gut wie die nicht ganz so Guten.“ Denn jemand, der ganz gut ist, also kurz gesagt ein Heiliger, wird nicht mit bösen Antrieben ringen müssen. Alles, was er tut, ist seinem guten Wesen geschuldet und insofern kein persönliches Verdienst. Hingegen darf es sich der nicht ganz so gute Mensch positiv anrechnen, wenn er den „inneren Schweinehund“ erfolgreich bekämpft. Sein gutes Handeln sollte daher moralisch höher bewertet werden.

Obwohl diese Sicht der Dinge bloß eine Karikatur dessen bietet, was den typischen Heiligen ausmacht (die Versuchung des heiligen Antonius ist sprichwörtlich), wird hier doch ein wichtiger Aspekt berührt: Menschen sind für das, was ihrem angebore-
nen Wesen entspringt, nicht verantwortlich. Wenn es trotzdem so etwas gibt wie eine „Charakterschuld“, dann deshalb, weil man durch eine Reihe von freien Entscheidungen in der Vergangenheit für das verantwortlich sein mag, was man heute ist, zum Beispiel ein chronischer Lügner oder Betrüger.

Davon abgesehen sollte es jedoch, im Guten wie im Bösen, Teil eines aufgeklärten Umgangs miteinander sein, dass wir die jeweils anderen nicht für das verantwortlich machen, was sie sind, falls sie niemals eine Wahl hatten. Und deshalb sollte – im Sinne Seels – auch gelten, dass der ganz Böse nicht ganz so böse ist wie der nicht ganz so Böse. Dabei tun wir uns aber schwer. Denn das ganz Böse fasziniert uns nicht nur stärker als das ganz Gute, es weckt darüber hinaus unsere primitivsten Instinkte. Wir wollen Vergeltung, Auge um Auge, Zahn um Zahn.

In seiner Autobiografie hat Elias Canetti einen ganz guten Menschen namens Dr.Sonne geschildert, der – im Gegensatz zu dessen realem Vorbild, dem Gelehrten und Dichter Avraham Ben Yitzhak – an Blässe kaum zu überbieten ist. Die Lebendigkeit der nicht ganz so Guten bei Canetti lässt sich damit gar nicht vergleichen. Besonders funkelnd sind gerade seine monströsesten Charaktere, etwa die bös-beschränkte Haushälterin im Roman „Die Blendung“. Obwohl diese Figuren nichts für ihren Charakter können, tun wir uns schwer, ihnen ihre Untaten nachzusehen. Wir möchten sie für das, was sie sind, bestrafen dürfen. Schließlich wird auch der Teufel im Feuersee der Hölle brennen – und zwar zu Recht, oder nicht?

Es gibt also eine Archaik des Bösen, gegen die sich der aufgeklärte Denker wendet. Terry Eagleton und Michael Günter tun das auf je ihre Weise. Günter, ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universität Tübingen, erklärt uns anhand von Beispielen aus dem Filmarchiv und seiner eigenen Praxis, welche psychologische Bedeutung die verschiedenen Formenfantasierter Gewalt haben, und wie daraus, durch familiäre und soziale Umstände, reale Gewaltexzesse entstehen. Günter will uns darüber unterrichten, warum sogar die ganz Bösen, vom Kinderschänder bis zum Serienkiller, nicht ganz so böse sind.

Böse zu sein wäre demnach selbst Hitler nicht in die Wiege gelegt worden. Es sei denn, er gehörte zu jener Gruppe von Persönlichkeiten, die Günter charakteristischerweise nur nebenbei abhandelt: die „Psychopathen“, also jene Menschen, die aufgrund einer genetischen Veranlagung zu bösen Taten getrieben werden. Psychopathische Personen gelten den medizinischen Fachleuten oft als unbehandelbar. Das widerspricht einerseits der Grundhaltung des bemühten Seelenarztes Günter. Und andererseits frustriert jene Diagnose (Therapieresistenz bedeutet gleichzeitig moralische Nichtverantwortung) unser Rachegelüst, demzufolge wir Hitler in der Hölle schmoren sehen wollen.

Akkurat an dieser Stelle kommt uns Eagleton, renommierter Professor für englische Literatur an der University of Manchester, in seinem Traktat über das Böse zu Hilfe. Der Marxist und bekennende Katholik lässt wenig Zweifel daran, dass Hitler tatsächlich zu den ganz Bösen gehörte. Warum? Weil, so Eagletons Befund, Hitlers Wesen auf eine regelrecht metaphysische, alle Einzelursachen transzendierende Weise vom Bösen durchdrungen gewesen sei. An mannigfachen Beispielen aus der Literatur versucht Eagleton zu demonstrieren, warum es seiner Meinung nach erforderlich ist, das bloß moralisch Schlechte der nicht ganz so Guten vom bedingungslos Bösen der ganz Bösen zu unterscheiden. Das gleichsam absolut Böse lasse sich nämlich nicht mehr weiter erklären, außer wir seien bereit, auf religiöse Kategorien zurückzugreifen. Das ganz Böse ist, so gesehen, buchstäblich teuflisch, ein dämonischer Mangel an Sein, daher radikal nihilistisch und selbstzerstörerisch. Na ja.

Auf den letzten Seiten seines Buches belehrt uns Eagleton darüber, dass der grassierende islamistische Terror im Ursprung nicht teuflisch, sondern umweltbedingt sei, und zwar maßgeblich verschuldet durch die ausbeuterische Politik des Westens. Das, könnte man sagen, ist die aufgeklärte Pointe einer „Theologie des Bösen“, derentwegen Eagleton sein Buch vielleicht überhaupt erst schrieb. Diejenigen, die uns den Heiligen Krieg erklärt haben, sind demnach nicht ganz so böse. Sie sind keine kleinen Teufel, sondern vielfach Menschen, denen die Möglichkeit genommen wurde, ihre Selbstachtung anders als durch Akte religiöser oder pseudoreligiöser Gewalt zu retten.

Nimmt man beide Bücher zusammen – wobei Eagletons Prosa, geschliffen und humorvoll, immerhin ein Lesevergnügen bietet –, muss man allerdings sagen: Es wird da wie dort nichts offeriert, was nicht schon x-mal besprochen worden wäre. (Ich selbst habe mich in meinem Buch „Verbrechermenschen“ dazu geäußert.) Darüber hinaus ignorieren Günter und Eagleton gleichermaßen die biologische Offensive, die das Feld der Kriminalitätsforschung zunehmend beherrscht. Hunderten angeblich seriöser Publikationen kann man entnehmen, dass die meisten verbrecherischen Handlungen genetisch, hirnanatomisch, neurologisch oder hormonell bedingt seien.

Hätte der neobiologistische Ansatz langfristig Erfolg, dann wären die Konsequenzen einschneidend. Nicht nur müssten wir unsere angestammten moralischen Reaktionen unterdrücken, auch das überkommene Strafrechtsdenken stünde vor einer Herausforderung grundsätzlicher Art. Denn das Dogma, wonach zumindest die nicht ganz so Bösen in vielen Fällen „hätten anders handeln können“, müsste – wie die Willensfreiheit an sich – endgültig zu den Akten gelegt werden. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.04.2011)

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