Ödipus in Polen

In Bruno Schulz' Erzählungen „Das Sanatorium zur Sanduhr“ ist die Welt am Zerbrechen. Eine Welt des allgegenwärtigen Verwandelns und täuschenden Anscheins. Entstanden in den 1920er- und 1930er-Jahren. Eine Wiederentdeckung.

Im Übrigen wird der Leser, der richtige Leser, auf den unsere Geschichte zählt, es ohnehin verstehen, wenn ich ihm tief in die Augen blicke und auf deren tiefstem Grund diesen Glanz funkeln lasse. Er wird die Augen schließen vor Entzücken über diese tiefe Empfindung. Denn halten wir uns nicht alle insgeheim unter dem Tisch, der uns trennt, bei den Händen?“ Der Leser, „der richtige Leser“ wird „Das Buch“ schon verstehen, auf „die nähere Bezeichnung“ verzichten und einwilligen, dem Ich-Erzähler zu folgen, wenn er sich auf den Weg macht, um „Das Buch“ wieder zu finden.

„Das Buch“ ist der Titel der ersten der 17 Erzählungen, die im „Sanatorium zur Sanduhr“ versammelt sind. Und „Das Buch“ ist darin zunächst ein Eindruck, den eine Illus-trierte auf den Ich-Erzähler als Kind gemacht hat. Es ist die Erinnerung an eine Welt, die sich auf dem Schreibtisch des Vaters für den Sohn aufgetan hat: Farben, Töne, die aus den Seiten hinausdrängen, um sich irgendwo draußen, in der Landschaft, zu verlieren. „Das Buch“ zeigt sich hier zugleich als etwas ganz Banales, Gewöhnliches – zerfledderte Seiten mit Werbungen? – und Tür zu einer (Innen)welt, die einem, hat man sie erst auf diese Weise geöffnet, von überall entgegenkommt, auf Straßen, Marktplätzen und Briefmarken.

In Schulz' Erzählungen hat eben jeder noch so unwichtige Gegenstand, jede schon fast abgeschriebene Figur die Möglichkeit, Buch zu werden, Tür zu einer Gegend, die Geheimnis bleibt, ein Rest von etwas, das sich nicht im gewöhnlichen Sinn „verstehen“ lässt. Das macht diese Erzählungen so besonders und einzigartig: Auch an jenen Stellen, wo „der Leser, der richtige Leser“ fühlt, dass die Welt hier am Zerbrechen ist und ein großer Druck den Satz von innen auflösen mag oder muss, bleibt ein Überschuss von etwas, das nicht angreifbar ist.

Kommt er unter anderem aus der Art und Weise, in der der Ich-Erzähler dem Vater, der doch auch mit einem Fuß in einer andern Welt steht, nicht zustimmt, wenn dieser sagt: „Das Buch ist ein Mythos, an den wir in der Jugend glauben, doch im Laufe der Jahre hört man auf, es ernst zu nehmen.“ Der Sohn denkt: „Ich wusste, ,Das Buch‘ war ein Postulat, eine Aufgabe. Auf meinen Schultern fühlte ich die Last einer großen Mission.“ Leise witzig klingt das, voller Selbstironie, einer Ironie, die den erfasst, der verstehen musste, dass es für die Ideen, die in seinem Kopf herumgehen, keine „Entsprechung in der Realität“ gibt. Trotzdem verbindet er sie weiterhin mit dieser Wirklichkeit und reagiert auf deren Appelle, Einladungen und Verweigerungen.

Einmal tritt der Ich-Erzähler die Reise ins „Sanatorium zur Sanduhr“ an, in die „zurückgestellte Zeit“, um den Vater zu besuchen. Auf die Frage des Sohnes, ob der Vater noch lebe, erklärt ihm der Arzt: „Selbstverständlich innerhalb der situationsbedingten Grenzen. Sie wissen es so gut wie ich: Von Ihnen zu Hause aus betrachtet, aus der Perspektive Ihrer Heimat – ist Ihr Vater gestorben. Das kann nicht zur Gänze rückgängig gemacht werden. Dieser Tod überschattet seine Existenz hier.“ Wie also lebt der Vater noch? Im Sanatorium, wo alle immer schlafen und ein nicht zu über-
malendes Grau den entscheidenden Farbton ausmacht, legt sich der Sohn schlicht zum Vater ins Bett (es gibt nur eines in diesem Zimmer), und wenn der Ich-Erzähler aufwacht, sieht er den Vater „zusammengerollt, klein wie ein Kätzchen“ zu seinen Füßen liegen. (Man möchte glauben, Ödipus selbst habe Bruno Schulz im Traum dieses Bild vorbeigebracht, um wenigstens den Mythos an den „richtigen“ Ort zurückzubringen und die Söhne, Töchter, Mütter und Väter nicht allein der Psychoanalyse zu überlassen.)

Die Stadt, zu der das Sanatorium gehört, erweist sich ebenso wie so manches „Zuhause“ in diesen Texten als bedroht von einer „Invasion feindlicher Armeen“. „Ein Krieg mit wem und um was?“, fragt der Ich-Erzähler. Das Wort „Krieg“ fällt kaum in diesem Buch. Bruno Schulz hat die Texte in den 1920er- und 1930er-Jahren geschrieben, in der damals noch polnischen Stadt Drohobyz. Und er, der später von den Nazis umgebracht wurde, macht in seiner Schreibweise so deutlich, dass „Vernichtung“ impliziter, ja subtiler stattfinden kann und nicht auf „den Krieg“ und die stumpfe Eindeutigkeit von Waffen beschränkt bleibt. In seinen Texten, ja, in „Dem Buch“ aber wirken andere Kräfte stärker: Das Verhältnis, das es zur Zerstörung eingeht, beruht eben nicht auf Konkurrenz. Und „Das Buch“ lässt sich das Leben der Idee und des Utopischen nicht nehmen, mag die Wirklichkeit auch hoffnungslos zynisch sein und jeglicher Verbundenheit „von Händen unterm Tisch“ spotten.

Im Nachwort begründet Doreen Daume, weshalb sie sich in ihrer Neuübersetzung für die „Sanduhr“ anstelle der „Todesanzeige“ entschieden hätte (im Polnischen handelt es sich hier um ein- und dasselbe Wort): „Die Todesanzeige“ füge sich nicht in den „Schulz'schen Kosmos des allgegenwärtigen Verwandelns und des täuschenden Anscheins“. Eine Freude, dass es nach den „Zimtläden“ nun auch dieses Buch in einer so schönen, neuen Übersetzung gibt. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.06.2011)

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