Späte Liebe des Herrn K.

Liebevoll: Annäherung Michael Kumpfmüllers an Franz Kafka.

Bei Kafka ist keiner zu Haus. Da kann man anläuten, so oft man will. Zwar drängt sich die Klingel mit dem Namen „Kafka“ fast penetrant vor alle anderen am Eingang des Hauses in Klosterneuburg-Kierling. Aber drückt man samstags oder sonntags auf den Knopf drückt und wartet auf Kafkas Antwort, tut sich nichts. Vielleicht zu den angegebenen Amtszeiten? Montag bis Freitag 9–12 und 14–17 Uhr?

Kafka in Kierling. Dort starb er, in der Hauptstraße 187, am 3. Juni 1924. Ein „Gedenkraum“ im Gebäude des einstigen Sanatoriums Hoffmann hält die Erinnerung an den Toten lebendig: notdürftig, kärglich. Private Mäzene retteten erst vor Kurzem die paar Kubikmeter Kafka-Gedenken vor der drohenden Schließung.

Kafka in Kierling. Dorthin führt Michael Kumpfmüller nun mit dem Roman „Die Herrlichkeit des Lebens“. Schreibend betritt er den Raum, in dem Kafka starb, erzählend füllt er ihn mit dem, an was diesem so sichtbar mangelt: mit Liebe. Ja, die Liebe! Sie prägt und trägt dieses Buch: die Liebe des Autors zum „Gegenstand“ Franz Kafka. Und die Liebe, die Kafka selbst lebte, bis dass der Tod sie schied – die Liebe zu Dora Diamant. Sie ist das Herzstück des Romans: die Geschichte, die im Sommer 1923 beginnt nimmt, als der 40-jährige, schon schwerkranke Kafka in einem Ostseebad die 15 Jahre jüngere Köchin Dora Diamant kennen lernt, sich in sie verliebt. Das Paar zieht zusammen und lebt, allen Widrigkeiten zum Trotz, gemeinsam in Berlin, bis die Odyssee durch die Heilanstalten beginnt: die letzte Reise, auf der Dora bis zu Kafkas Tod an seiner Seite bleibt.

So viel Idylle in Kafkas Glück?

Kumpfmüller begleitet das Paar durch dieses eine Jahr als sensibler, diskreter Weggefährte. Behutsam breitet er sich in dem Raum aus, den die Historie ihm gelassen hat. Die Fakten selbst geben nicht viel preis, der Briefwechsel der Liebenden ist nicht erhalten. 1933 nahm die Gestapo 35 Briefe und 20 Notizbücher Kafkas an sich, die Dora Diamant mit nach Berlin genommen hatte. Sie scheinen für immer verloren. Ein unschätzbarer Verlust. Und eine Leerstelle, die nicht geschlossen, vielleicht aber erfüllt werden kann. Erfüllt und erfühlt.

So jedenfalls nähert sich Kumpfmüller dieser Geschichte: mit größtmöglicher Feinheit gießt er seine Prosa in die Poren des Überlieferten. So entsteht eine Liebesgeschichte von außerordentlicher Zartheit. Wahrhaft schöne Literatur. Doch – ein Verdacht legt sich über jede der 230 Seiten – zu schön, um wahr zu sein. „Würde sie ihr Leben aufschreiben, würde sie nur Kleinigkeiten notieren“, lässt Kumpfmüller seine Dora denken, „denn am größten, findet sie, ist das Glück, wenn es winzig klein ist, wenn er sich die Schuhe bindet, wenn er schläft, wenn er ihr durchs Haar fährt.“ War soviel Idylle in Kafkas letztem Glück?

Nicht dass der Autor seinen Kafka nicht kennte. Man spürt, dass er jede Zeile von ihm gelesen hat. Man respektiert, dass er, wohl aus solchem Wissen, erst gar nicht den versucht, sich an jene Tiefenschicht heran zu schreiben, aus der Kafka sein Werk geschöpft hat. Wie hätte das auch gelingen können? Der Roman endet, so gesehen, vor verschlossener Tür. Bei Kafka: niemand zu Haus. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.10.2011)

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